Kapitel 56: Liebe Lizzie

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Überrascht schnappte ich mir ein Messer um den Umschlag zu öffnen, der an mich adressiert war. Er hatte auf meinen Platz am Esstisch gelegen kurz nachdem ich Daria und Sandra verabschiedet hatte. Ich musterte den Brief nochmal genau. Es stand einfach mein Name drauf, ohne Adresse und ohne Absender. Der Brief wurde wohl von der Person selbst in den Briefkasten geworfen. Die Schrift kam mir merkwürdig bekannt vor, doch ich kam nicht drauf woher. Im Umschlag selbst war ein einfacher Brief wieder in dieser vertrauten, geschwungenen Schrift.


Liebe Lizzie,

Wenn du das hier liest, werde ich bereits tot sein und ich werde die Entscheidung, wann und wie ich sterbe, selbst getroffen haben. Diese Entscheidung war hart und es tut mir Leid, dass ich dir sie lebend nie mitteilen konnte. Du warst noch so jung, als ich die Diagnose bekam und damals schon hatte ich mit dem Gedanken gespielt einfach alles zu beenden. Jedoch wollte ich dir das nicht antun. Du hast nie etwas gesagt, doch du warst die letzten Jahre nicht wirklich glücklich gewesen und hast dich immer mehr zurückgezogen, ich nahm an, dass es dir in der Schule nicht besonders gut ging. Ich habe den Gedanken also wieder verworfen und wollte einfach noch ein schönes halbes Jahr mit Mum und dir verbringen. Doch ich sah, wie du mir verstohlene Blicke zuwarfst und mir tat es weh dir noch mehr Kummer zu bereiten obwohl ich weiß, dass es dir selbst nicht gut ging. Noch dazu wurde das Verhalten deiner Mutter immer merkwürdiger, was das Verhältnis zwischen Mum und dir auch immer schwieriger machte. Auch zu mir wurde sie immer distanzierter. Anfangs dachte ich mir nichts dabei, doch dann überhörte ich einen Anruf von ihr. 

Ich weiß nicht wie dein Verhältnis zu ihr ist, in dem Moment in dem du das ließt, doch sei ihr bitte nicht all zu sehr böse. Ich weiß nicht ob du es nicht bereits geahnt hast, aber deine Mutter hatte eine Affäre mit einem anderen Mann und das zog mir mehr den Boden unter den Füßen weg als meine Krebsdiagnose. Deine Mum und ich kannten uns seit der Grundschule und wurden in der High School schließlich ein Paar und du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass sie und du die einzigen Menschen seid, die ich wirklich von ganzem Herzen liebe. Ich glaube, genau deswegen hat es mich auch wirklich sehr verletzt als ich von diesem anderen Mann erfuhr. Ich habe deine Mutter nie darauf angesprochen und sie weiß nicht, dass ich von der Affäre wusste. 

Und plötzlich kam mir wieder dieser Gedanke, dieser Wunsch einfach zu sterben. Ich habe bereits drei Monate dieses sechs-Monate-Limits hinter mich gebracht und es ging mir nicht gut. Ich hatte starke Schmerzen und lebte von einer Morphium-Injektion zur Nächsten. Selbst diesen Brief schreibe ich unter größtem Kraftaufwand. Ich hatte mich über aktive Sterbehilfe informiert, die hier natürlich illegal war. Also habe ich den Entschluss gefasst, mein Leben selbst zu beenden auch wenn ich weiß, dass es dir das Herz brechen wird. Doch ich weiß auch, dass du ein starkes Mädchen bist und das überstehen wirst. Genau deswegen bekommst du diesen Brief auch erst später, nach deinem 18. Geburtstag. Auch wenn ich dich jetzt nicht sehen kann, weiß ich, dass du viel reifer geworden bist und meine Gründe vielleicht besser verstehen kannst. Denn ich werde es nicht nur für mich tun, sondern auch für deine Mutter, damit sie mit dem Mann zusammenleben kann, der sie glücklich macht. Und vor allem für dich, um dir die Last zu nehmen, die meine Krankheit dir aufgehalst hat. Bitte gib dir nicht selbst die Schuld an meinem Tod, ich weiß, dass du das tun wirst, die Entscheidung lag ganz allein bei mir.

Vergiss nie, dass ich dich über alles liebe,

Dad


Zitternd legte ich den Brief vor mir auf den Tisch ab und drückte meine Handballen auf meine Augen um zu verhindern, dass die Tränen, die sich bereits bildeten, flossen. In den letzten zwei Jahren verging kein Tag, an dem ich mich nicht gefragt habe warum Dad sich umgebracht hatte. Ich fand es immer furchtbar den Grund nicht zu kennen, doch jetzt, nachdem ich die Gründe kannte, fand ich es noch viel schlimmer. Meine Unterlippe zitterte und ich gab einen erstickten Laut von mir.

"Hey Liz, sind Sandra und Daria schon- Verdammt, ist etwas passiert?" Coles Hände legten sich um meine und nahmen sie sanft von meinen Augen weg. Mehrmals öffnete ich den Mund, doch es ertönten immer nur erstickte Schluchzer. Cole hockte vor mir auf dem Boden und wippte meinen Oberkörper sanft hin und her.

"Ho-...hol Mum", brachte ich schließlich nach einigen Minuten hervor. Cole ließ von mir ab und blickte mich besorgt an.

"Bist du dir sicher?" Mit der Faust fuhr ich über beide Augen um die Tränen wegzuwischen und nickte. Cole verließ den Raum und mit ihm ging auch all die Wärme, die ich gespürt hatte. Schon kurze Zeit später konnte ich Mums und auch Louis Stimme hören und in meinem Bauch begann eine Wut zu brodeln, die ich sonst immer nur gegen mich selbst gespürt hatte. Kurz nachdem sie das Esszimmer betraten, blieben sie auch gleich wieder stehen. Ein wenig erinnerte die Szene an jene, in der sie mich über ihre Verlobung informierten.

"Wie lange kennt ihr euch schon?", fragte ich schroff. Bei meiner Mum blitzte kurz Verwunderung auf doch wurde gleich durch Wut ersetzt.

"Anderthalb Jahre. Was fällt dir ein sowas zu fragen? Mussten wir wirklich wegen sowas herkommen?" Dabei war mir jedoch nicht Louis' überraschter Seitenblick an meine Mutter entgangen.

"Versuch es nochmal. Und diesmal die Wahrheit." Ich stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Cole stand hinter unseren Eltern und wusste nicht wohin er blicken sollte.

"Ich sage die Wahr-"

"Julia" Louis' Stimme hatte einen warnenden Ton angenommen.

"Wir kennen uns seid drei Jahren und sind seid zweieinhalb Jahren ein Paar", gestand er schließlich und bestätigte damit all meine Vermutungen. Mein Blick fiel auf Cole.

"Wusstest du davon?" Er hob den Blick und sah mich unverwandt an bevor er den Kopf schüttelte. Ich nahm den Brief vom Tisch und drückte ihn grob an Mums Brust.

"Was soll das?" Empört nahm sie den Brief entgegen, sah ihn sich aber nicht an.

"Wie fühlt es sich an einen Mann auf dem Gewissen zu haben?" Verwirrt blickten Mum und Louis mich an. Ich deutete mit dem Kopf Richtung Brief.

"Dass ihr nachts überhaupt schlafen könnt" Ich drückte mich an ihnen vorbei und verschloss mich in meinem Zimmer  

Nobody like youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt