Kapitel 60: Ich bin eine furchtbare Mutter

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Unsicher trat ich durch die Tür, welche die Garage vom Haus abtrennte, und setzte meine Tasche in der Garderobe ab. Fragend blickte ich Cole an, der mit dem Kopf Richtung Esszimmer nickte. Langsamen Schrittes betrat ich schließlich das Esszimmer, in welches ich seit 3 Wochen nicht mehr gestanden hatte, wie in so vielen Räumen dieses Hauses. Louis saß am Tisch und las Zeitung. Als ich eintrat, blickte er auf und lächelte mich sanft an als er die Zeitung beiseite legte.

"Schön, dass du wieder da bist", begrüßte er mich und schloss mich in seine Arme. Kurz darauf ließ er mich los als wüsste er, dass mir Umarmungen unangenehm waren. Ich biss auf meine Unterlippe und blickte mich suchend um, was er zu bemerken schien.

"Deine Mum ist im Wohnzimmer. Sie möchte mit dir sprechen" Wieder blickte ich fragend zu Cole, der am Türrahmen lehnte, doch dieser lächelte mich nur ermutigend an. Ich presste die Lippen aufeinander und machte mich auf de Weg ins Wohnzimmer. Cole hatte bereits erwähnt, dass meine Einweisung eine komische Reaktion in meiner Mutter ausgelöst hätte, doch wirklich verstehen, tat ich es nicht. Vielleicht wusste er mehr als er mir erzählt hatte. Als ich das Wohnzimmer betrat, bot sich mir ein eher ungewöhnliches Bild. Meine Mum lag in einer Decke eingewickelt auf dem Sofa und ein Fotoalbum lag auf ihren Schoß. Ihre Augen waren rot und angeschwollen. Als sie zu mir hochsah, bemerkte ich, dass ihre Lippe bebte und ihren Augenringen nach, hatte sie die letzten Nächte nicht besonders gut oder viel geschlafen. Ich setzte mich in den Sessel, ihr gegenüber. Das Fotoalbum kannte ich als eines von ihr, mir und Dad als ich noch ein Kleinkind gewesen war.

"Ich bin eine furchtbare Mutter", brachte sie schließlich nach einigen Minuten gepresst hervor und einige Tränen rollten ihre Wangen hinab als sie das Bild von mir auf den Schultern meines Vaters betrachtete. Sie blätterte noch durch einige Seiten und bemerkte wie ich, dass es fast ausschließlich Bilder von Dad und mir waren. Zu ihrem Kommentar sagte ich nichts. Seufzend schloss sie das Album und legte es auf den Couchtisch ab. Sie wickelte sich noch fester in die Decke ein und blickte mich dann unverwandt an. 

"All die Jahre und ich habe es nicht gemerkt. Wollte es nicht merken, es nicht wahr haben", murmelte sie leise. Sie stützte sich mit ihren Ellbogen auf den Knien ab und vergrub ihr Gesicht in ihre Hände.

"Ich hab dich kaputt gemacht, weil ich zu dumm war um Hilfe zu holen" nuschelte sie in ihre Hände und ich runzelte die Stirn.

"Was meinst du mit Hilfe?" Sie blickte von ihren Händen auf und fand meinen Blick. Sie presste die Lippen fest aufeinander und fuhr sich mit dem Handballen über die Augen. Dabei machte sie laute schniefende Geräusche.

"Hast du schon einmal von der Wochenbettdepression gehört?" Ich setzte mich gerader hin und biss auf die Innenseite meiner Wange als ich überlegte.

"Das ist sowas wie der Babyblues, oder? Kurz nach der Geburt wenn einem alles zu viel wird" Sie nickte.

"Ja, nur mit einer viel heftigeren Reaktion", entgegnete sie leise und haftete ihren Blick auf das geschlossene Fotoalbum. Fragend blickte ich zu ihr, doch sie schien meinen Blick nicht wahrzunehmen oder sie ignorierte ihn.

"Dein Dad und ich hatten nie über deine Geburt gesprochen" Ich nickte. Jetzt, wo sie es erwähnte, fiel mir das tatsächlich auf. 

"Du... du hattest einen Bruder. Wir hätten Zwillinge bekommen sollen. Doch er ist sehr früh während der Schwangerschaft verstorben" Wieder brach sie in Tränen aus. Auch ich musste mich erstmal sammeln. Ich hatte einen Bruder?

"Was... was ist passiert?" Sie schüttelte den Kopf.

"Nichts. Laut den Ärzten kommt es häufig vor, dass einer... einer der Zwillinge nicht überlebt" Wieder schluchzte sie und ich starrte auf meinen Schoß. Was sollte ich bloß sagen?

"Nachdem wir deinen... deinen Bruder verloren hatten, wollte ich, dass für deine Geburt alles perfekt vorbereitet ist. Dein Vater und ich waren in Vorbereitungskursen, wir hatten den Hebammen so viele Fragen gestellt, wir haben dein Zimmer für dich ausgerüstet. Alles lief wie geplant. Am errechneten Tag setzten bei mir die Wehen ein, wir fuhren ins Krankenhaus und du solltest dann kommen. Im Kreißsaal wurde dann festgestellt, dass du dir beim Drehen die Nabelschur um den Hals gewickelt hast . Außerdem konntest du dich nicht vollständig drehen und lagst quer. Also musste ein Notkaiserschnitt durchgeführt werden. Als sie dich dann geholt hatten, waren sie sich nicht sicher ob du überleben wirst. Du hast nicht besonders gut geatmet, deine Herztöne waren schlecht. Du hast dich erst nach quälend langer Zeit stabilisiert. Absolut nichts bei deiner Geburt ist so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich war Tage später furchtbar gereizt, konnte nicht schlafen, war aber immer erschöpft" Sie holte kurz Luft um sich zu beruhigen.

"Babyblues?", fragte ich vorsichtig nach.

"Anfangs dachte ich das. Meine Kusine hatte dies auch bei der Geburt ihres Kindes, deswegen sagte ich den Ärzten nichts. Ich dachte, dass würde sich in einigen Tagen oder Wochen wieder legen"

"Doch es legte sich nicht", schlussfolgerte ich. Sie nickte vorsichtig.

"Nein, es wurde immer schlimmer. Es war so schlimm, dass ich wenn ich dich auch nur ansah einen furchtbaren Hass auf dich bekam. Alles was mit dir zutun hatte, fühlte sich leer an und ich hatte kein Interesse an deinem Leben teilzuhaben" Ich schluckte. Das war also der Grund für unsere distanzierte Beziehung.

"Wusste Dad davon?" Sie schüttelte schluchzend den Kopf.

"Ich habe ihm nie etwas davon erzählt. Ich wusste nicht, wie ich ihm erklären sollte, dass ich unser Kind nicht liebte. Doch ich glaubte, dass er es wusste." Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Es traf mich sehr von ihr persönlich zu hören, dass sie mich nicht liebte. 

"Und Cole?", fragte ich leise. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie ihn eher wie ihr Kind behandelte als mich. Sie sah mich entschuldigend an.

"Cole ist für mich wie der Sohn, den ich nie haben durfte. Es tut mir leid" Ich biss auf meine Zunge um nichts dummes zu sagen und nickte verstehend obwohl ich es absolut nicht verstand.

"Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst, dafür habe ich dir zu sehr wehgetan. Ich möchte nur, dass du es vielleicht verstehst. Du bist viel klüger als ich, du wusstest wann es nicht mehr ging und hast dir Hilfe geholt, ich konnte das nie" Ich schluckte und spürte wie meine Augen zu brennen begannen. All die Jahre hätte ich eine echte Mutter haben können, doch sie war zu stur um sich helfen zu lassen. Als ich die angestaute Luft ausstieß, zitterten meine Lippen.

"Und jetzt? Hast du dir jetzt Hilfe geholt?" Erwartungsvoll blickte ich sie an.

"Nein" Ich öffnete gerade den Mund um ihr zu sagen, dass sie feige ist, als sie mich auch schon unterbrach.

"Louis hat das für mich getan. Ich beginne eine Therapie und hoffe, dass wir das letzte bisschen unserer Beziehung noch retten können"

Nobody like youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt