Kapitel 23: Was ist passiert?

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"Wie kommst du darauf?" Ich rieb mir über meine Arme, da es mich bei seiner Frage irgendwie fröstelte. Er zuckte mit den Schultern.

"Na ja, ich bin mir da jetzt nicht so sicher und kenne mich bei dem Thema nicht so aus aber wenn man an Krebs erkrankt, dann stirbt man nicht von heute auf morgen, richtig? Das ist oft ein langsamer Prozess, bei dem der Erkrankte und die Angehörigen sich vorbereiten können. Bei dir hab ich das Gefühl, dass es nicht so wäre" Seufzend strich ich mir mit der flachen Hand übers Gesicht und überlegte. Eigentlich könnte ich ihm alles erzählen. Immerhin wohnen wir im selben Haus und irgendwann würde er es früher oder später sowieso heraus finden.

"Du hast Recht. Mein Dad ist nicht an Krebs gestorben", gab ich schließlich zu. Das ließ ihn aufhorchen. Ich glaube, er dachte, dass er keine Antwort mehr bekommen würde.

"Krebs hatte er schon. Magenkrebs um genau zu sein. Es wurde erst diagnostiziert, als der Krebs bereits im Endstadium war. Durch den ganzen Stress hatte er die ganzen möglichen Symptome ignoriert oder nicht ernst genommen. Die Ärzte gaben ihm noch ein halbes Jahr, mit Therapie vielleicht ein Ganzes. Die Therapie lehnte er aber gleich ab, er meinte er wollte in Würde sterben und nicht sein Leiden verlängern" Während des Erzählens rollten mir einige Tränen herab doch ich wischte sie eisern fort um mit zitternder Stimme weiter zu sprechen.

"Mit jedem Tag wurde er schwächer und schwächer. Von dem gestandenen Mann, den ich einst kannte, war nicht mehr viel übrig. Für mich wurde es immer schwerer seinen Anblick zu ertragen, sowie das Wissen, dass er eines Tages nicht mehr da sein würde. Auch Mum verhielt sich anders ihm gegenüber. Ich wusste jedoch nicht ob es wirklich an der Krankheit lag oder an etwas anderes. Sie war oft bis spät abends weg und wirkte ziemlich geheimnisvoll. Sie hat es nie  zugegeben aber ich denke, dass sie zu der Zeit eine Affäre hatte, sicher bin ich mir aber nicht. Wie gesagt, es kann auch sein, dass Dads Diagnose sie verändert hat. Als ich dann eines Tages-"

Ein Schluchzen unterbrach meine Erzählung und ich versuchte vergebens die, sich aufbahnenden, Tränen aufzuhalten. Ich presste die Lippen fest aufeinander und versuchte mich zu beruhigen. Cole musterte mich geduldig und forderte mich nicht auf weiter zu sprechen.

"Sorry, ich spreche nicht sehr oft drüber", entschuldigte ich mich. Cole sagte nichts, sondern reichte mir einfach eine Packung Taschentücher, die er vorher aus seiner Tasche gekramt hatte. Dankbar nahm ich sie entgegen und schnäuzte hinein bevor ich fort fuhr.

"Als ich dann eines Tages von der Schule nach Hause kam, stand vor unserer Haustür ein Rettungswagen. Die Nachbarn wollten mich daran hindern das Haus zu betreten, doch das hielt mich nicht auf. Ich lief in das Haus hinein nur um zu sehen, wie die Sanitäter versuchten meinen Dad zu reanimieren" Ich brach nun komplett in Tränen aus. Sanft zog Cole mich in eine Umarmung und strich mir beruhigend über den Rücken während ich mich an seiner Brust ausheulte. Keiner sagte ein Wort, jeder hing seinen Gedanken nach. Eine Weile später durchbrach Cole die Stille.

"Was ist passiert?" Ich schniefte und überwand mich dazu schließlich den letzten Teil der Geschichte preiszugeben.

"Unsere Nachbarin hat den Rettungswagen gerufen, als sie Dad durch das Fenster sah. Er hatte sich erhängt. Ich kann mir bis heute nicht erklären, warum er das gemacht hatte. Er war einfach nicht der Typ dafür. Er hat nicht mal einen Abschiedsbrief hinterlassen. Doch, dass er sich erhängt hat, war nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste waren die Sanitäter, die eine geschlagene halbe Stunde versucht haben ihn wieder zu beleben. Mein Dad wollte sterben, doch sie wollten ihn nicht gehen lassen", schluchzte ich wieder. 

"Meine Mum hat komplett die Fassung verloren und wurde nach Dads Tod noch ekelhafter zu mir, jedoch hatte sie nach einigen Wochen wieder Fuß gefasst" Ich schnäuzte nochmal.

"Und was war mit dir?", fragte er ruhig. Ich konnte anhand seines Gesichts nicht herauslesen, was er gerade dachte. Er hatte ein gutes Pokerface. Ich seufzte.

"Ich war immer dicker gewesen als andere Mädchen an meiner Schule und wurde deswegen auch oft fertiggemacht. Als Dad dann starb wurde es noch schlimmer. Ich war nicht nur das fette Mädchen sondern das fette Mädchen mit dem Selbstmordvater. Ich fiel in ein tiefes Loch aus dem ich alleine nicht mehr herauskam. Mum war keine große Unterstützung. Aus Frust war ich immer nur am essen, wodurch ich immer mehr gehänselt wurde. Dann schließlich habe ich angefangen mich selbst zu verletzen" Er musterte meinen Arm über den ich gedankenverloren strich.

"Ich wollte den Druck rauslassen, meinen innerern Schmerz. Als das auch nicht half, griff ich auf rezeptfreie Schmerzmedikamente zurück von denen ich süchtig wurde. Meine Mum hat es herausgefunden und ich habe selbst eingesehen, dass ich so nicht weitermachen konnte und habe mich in eine Psychiatrie einweisen lassen. Dort habe ich dann einen Entzug gemacht und gelernt wie ich mit meiner Trauer und Wut umgehen kann ohne alles in mich hereinzufressen. Ich war bereits ein halbes Jahr in Behandlung als ich mich immer schlapper fühlte. Ich war müde und hatte keine Motivation. Es ging so weit, dass ich eines Tages einfach umfiel. Eine Untersuchung hatte schließlich herausgefunden, dass ich Blut verliere. Ich verfiel in Panik, ich wollte nicht so enden wie mein Dad. Nach einer Magenspiegelung war dann klar, dass es kein Tumor war, sondern ein Geschwür, wahrscheinlich bedingt durch meinen Medikamentenmissbrauch. Wegen des hohen Risikos, dass diese Geschwüre immer wieder kommen, sowie das Magenkrebsrisiko wurde bei mir gleich der ganze Magen entfernt" Eine seiner Augenbrauen schoss in die Höhe.

"Willst du mir damit sagen, dass du keinen Magen hast?" Ich schüttelte den Kopf.

"Doch, aber es ist nur ein winziger Teil übrig. Deswegen kann ich nicht so viel auf einmal essen"

"Das erklärt bei dir so einiges. Hast du deswegen so schnell an Gewicht verloren?" Ich nickte.

"Wie dem auch sei, jedenfalls war ich ungefähr ein Jahr in der Psychiatrie und meine Mum hat mich nicht einmal besucht und, wie ich festgestellt habe, nicht mal meine Briefe gelesen. Ich durfte nämlich nichts elektronisches bei mir haben, wegen des Heilungsprozesses. Sie meinte ich würde es mit meiner Trauer übertreiben. Ich sollte Dad nicht so viel hinterhertrauern, immerhin hat er uns verlassen. Sie war ziemlich schnell über ihn hinweg, denn sie zog schon mit deinem Dad zusammen, da war Dad noch keine 2 Jahre tot", erklärte ich die letzten Einzelheiten meiner kleinen Geschichte.

Draußen war es schon dunkel, ich hätte nicht gedacht, dass ich solange erzählt habe. Cole gähnte schon ausgiebig und ich fühlte schon, dass es bei mir nicht mehr lange dauern konnte bis ich auch einschlief. 

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A/N: Depressionen und Selbstmord(-gedanken) sind ein ernstes Thema und sollten kein Tabu in dieser Gesellschaft sein, was sie, leider, immer noch sind. Wer gerne darüber sprechen will, meine Nachrichtenbox ist immer frei für euch, ich habe gerne ein offenes Ohr. Auch gibt es Seelsorgentelefone, die euch zu jeder Tageszeit offen stehen. Ihr seid nicht alleine auch wenn ihr euch so fühlt. Holt euch Hilfe.


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