Auf dem Bahngleis 9¾ herrscht emsige Betriebsamkeit. Das Erste, was ich sehe, ist die riesige Dampflok, die den Bahnsteig in Nebel hüllt. Eine Lok? Ernsthaft, England? 21. Jahrhundert? mein Vater ist ein No-Maj, ich bin in Amerika aufgewachsen, ich weiß, was ein iPhone ist und wie eine Magnetschwebebahn funktioniert und die karren uns mit einer Dampflok nach Schottland.
Ich hole sehr tief Luft. Nicht, dass Ilvermorny wesentlich fortschrittlicher wäre – nach Ilvermorny fährt ab der Grand Central's Station in New York der Zug James' Junction. Aber das ist wenigstens keine Dampflok. Nichts gegen den Hogwarts-Express. Diese Lok ist rot – ich mag Rot – und echt gut in Schuss. Aber bis wir da oben sind, ist es sicherlich Mitternacht. Immerhin habe ich heute nichts mehr vor – ich habe dank dieses Schulwechsels gar nichts mehr vor.
Mit Schwung greife ich nach meinem Koffer und wuchte ihn die Stufen in einen Wagon hinauf. Im Zug herrscht Gedränge. Die meisten Abteile sind schon besetzt, was es mir nicht leicht macht, einen freien Platz zu finden. Alle kennen sich. Das war ja klar. Bereits jetzt merke, dass sich einige Hälse nach mir umbiegen, und die Ersten zu tuscheln anfangen, da hilft auch die weiche Strickmütze nichts, die ich trage. Ich dachte, die verleiht mir etwas Anonymität.
Ich muss fast zum Ende des Zuges gehen, bis ich endlich ein freies Abteil finde. Erleichtert schiebe ich die Tür auf, zerre meinen sperrigen Koffer hinter mir hinein und hieve ihn nach oben auf die Kofferablage. Er wiegt ungefähr 100kg. Vielleicht hätte Dad doch mit mir aufs Gleis gehen sollen und mir mit dem Koffer helfen und-
Schwerfällig lasse ich mich auf das Polster fallen und starre aus dem Fenster auf das volle Bahngleis. Es ist besser so, dass sie nicht gekommen sind, um zu winken, wie die anderen Eltern. Doch da entdecke ich sie. Sie stehen abseits und sehen in meine Richtung und lächeln traurig. Dad sagt leise etwas zu meiner Mutter und tätschelt ihr die Schulter. Vermutlich sagt er: „Sie schafft das schon, Agnes." Da bin ich mir nicht so sicher. Es fühlt sich wie eine gewaltige Bürde an, diesen Neuanfang zu wagen, nach allem, was passiert ist.
Sanft berühre ich mit den Fingerspitzen die Scheibe und lächle. Ich weiß nicht, ob sie mich sehen, aber ich sehe die beiden. Sie sind da.
Schluckend wische ich mir über die Augen und greife automatisch an den Anhänger, der um meinen Hals hängt. Collin hat ihn mir geschenkt. Es ist eine Kugel, so groß wie eine dicke Murmel und heute schimmert sie grau. Sie sieht immer anders aus, nie gleich. Man könnte meinen, es sei ein Stimmungsglas, aber das stimmt nicht. Es ist viel toller. Collin fehlt mir. Meine Eltern werden mir ebenfalls fehlen – genauso, wie mir Liam, Nate, Amy und Louise fehlen werden. Mit dem feinen Unterschied, dass Col nicht mehr da ist. Er ist im Sommer einfach verschwunden.
„Oh, entschuldige!" Die Schiebetür knallt auf und ich zucke in mir zusammen. Ich schieße herum und starre in die feinen Züge eines Mädchens in meinem Alter. Ihre Haare sind knallviolett und ihre Augen von einem so intensiven Grün, dass ich mich frage, ob sie Kontaktlinsen trägt, oder sie vielleicht magisch verändert hat. Sie mustert mich neugierig, schaut verwirrt auf die Abteilnummer und öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Was sie sagen möchte, bekomme ich jedoch nicht heraus, denn der blonde Gorilla schiebt sie rabiat zur Seite.
„Raus hier", blafft er mich an und nickt zur Tür.
Ich glaube, ich habe mich verhört. „Wie bitte?"
„Das ist unser Abteil. Verzieh dich." Blondie fuchtelt aufgeregt mit der Hand und bedeutet mir, dass ich das Abteil gefälligst zu verlassen habe. Aber da hat er die Rechnung ohne mich gemacht.
„Nope...", sage ich gedehnt und strecke mich bequem auf den Sitz. Das Mädchen mit den violetten Haaren hält sich im Hintergrund und beobachtet die Szene offensichtlich angespannt. Gut, es ist vielleicht nicht die beste Strategie, sich direkt mit diesem Alpha-Männchen anzulegen, wenn ich möglichst unsichtbar in Hogwarts ankommen will, aber ich bin wirklich froh, in diesem überfüllten Zug einen Sitzplatz ergattert zu haben.
Hochmütig bläht er die Nüstern auf und sieht aus, wie ein Pegasus kurz vor dem Start. „Wird's bald?"
„Nö", gebe ich möglichst gelassen zurück. „Ich war als erstes hier. Außerdem steht hier nirgendwo eine Sitzplatzreservierung, also glaube ich nicht, dass es dein Abteil ist, Blondie."
Blondie schnaubt verächtlich.
Sein einer Begleiter, ein dunkelhäutiger Junge mit krausem Haar, nickt demonstrativ den Gang hinunter, doch der breitschultrige Gorilla, kommt jetzt erst richtig in Fahrt.
„Jetzt hör mir mal zu: Du blockierst hier mein Abteil. Ich weiß zwar nicht, wer du bist, aber es ist ungeschriebenes Gesetz an dieser Schule, dass dieses Abteil mir gehört, also: Zieh. Endlich. Leine. Puppe." Allmählich wird er richtig wütend. Zwischen seinen Augen erscheint eine Falte und eine Ader an seinem Hals pulsiert. Ich glaube, er explodiert gleich.
Das Mädchen mit den violetten Haaren hüstelt leise im Hintergrund. Blondie ignoriert sie. Sie scheint für ihn gar nicht zu existieren. „Wenn dir das Abteil so wichtig ist", ich strahle ihn an und mache eine einladende Geste mit der Hand, „dann kommt doch rein. Ich teile den Platz gerne mit euch. Ist genug Platz für uns alle. Selbst für meine Freundin." Ich zwinkere dem Mädchen im Gang zu und sie verschluckt sich. Möglicherweise war das der Tropfen zu viel im Weinfass.
Er ballt vor unverhohlener Wut die Fäuste und setzt an, etwas zu erwidern, als sein anderer Kumpel, ihn an der Schulter berührt. „Sly, lass gut sein. Nebenan sitzen Susie und Persephone. Lass die da hier sitzen." Damit meint er mich. Es könnte nicht verächtlicher klingen.
„Ja, Sly. Lass gut sein." Das Mädchen mit den violetten Haaren rollt dramatisch die Augen.
Er fährt zu ihr herum und für einen flüchtigen Moment habe ich das Gefühl, dass zwischen den beiden etwas Unausgesprochenes abläuft. Etwas, das ich nicht greifen kann, weil ich ihn nicht kenne, und sie ebenfalls nicht. „Ich lasse nichts gut sein!", presst er heraus und funkelt mich herausfordernd an, bevor er mit der flachen Hand hitzig gegen die Glasscheibe schlägt und dann theatralisch mit seiner Entourage davonrauscht.
Ich blinzle überrascht und sehe auf die Stelle, an der die zugegebenermaßen eindrucksvolle Gestalt des blonden Schul-Gorillas eben noch stand.
Schön, dass ihr her gefunden habt.
Ist er nicht reizend, der kleine Schul-Gorilla? Maica würde sagen: "In etwa so reizend wie Chlor." *g*
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Keeper Seeker (Harry Potter FF)
FanfictionFür Rory geht eine Welt unter, als ihre Eltern ihr eröffnen, dass sie von Massachusetts nach Salisbury umziehen werden. Rorys Vater hat dort eine neue Anstellung gefunden. Der Umzug soll für die Familie einen Neuanfang darstellen, um nach dem Versc...