Kapitel 55: Fragen

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Etwa eine Stunde später erwachte ich. Ich hatte keine Träume gehabt, das war wahrscheinlich aber auch besser so, denn es wären wohl sowieso nur Alpträume geworden. Natasha war noch nicht da, wahrscheinlich war sie noch trainieren. Langsam setzte ich mich auf und rückte vor bis zu Bettkante. Ich beobachtete mich im eingebautem Spiegel vom Schrank gegenüber. Ich war blass, mein Körper dürr und ausgehungert ohne wirklich erkennbare Muskeln. Meine sonst so dicken Haare waren dünn geworden und meine Augen wirkten stumpf auf mich. Langsam fuhr ich meine Flügel aus und fächerte sie voll auf. Sie waren schwarz wie die Nacht und immer noch auf gewisse Weise prachtvoll, aber selbst sie wirkten abgemagert und die Federn hatten nicht mehr wirklich Glanz. Die Tür ging auf und wieder zu. Natasha stand davor und sah mich an. Ich erwiderte ihren Blick kurz und sah dann zurück in den Spiegel. „Wie lange, bis ich nicht mehr aussehe wie ein halbverhungerter Welpe? Bis ich wieder kämpfen kann? Oder wenigstens laufen? Bis ich raus auf die Straße kann? Bis ich irgendwas alleine machen kann und nicht mehr bei allem Hilfe brauche? Bis ich wieder fliegen kann?", fragte ich mit verzweifelter Stimme und eine Träne kullerte meine Wange herunter. „Ich weiß es nicht", meinte die Russin, kniete sich vor mir hin und wischte die Tränen weg. „Ich weiß es nicht, mein Engel", wiederholte sie und drückte mich an sie. Sie hielt mich, bis ich mich ausgeweint hatte, wohlwissend, dass ich nicht nur wegen meinem Aussehen weinte, aber auch wissend, dass sie mir nicht mit mehr helfen kann, als einfach für mich da zu sein.

Nach einer gefühlten Ewigkeit meinte sie, dass wir duschen gehen sollten und ich danach nochmal zu Dr. Cho gehen soll. Ich stand mit zittrigen Beinen auf und sie hielt mich fest. Im Bad half sie mir aus meinen Klamotten und löste die Verbände. Dann zog sie sich selbst auch aus und wusch sich und mich.

Dr. Cho besah meine Wunden und schmierte irgendeine Salbe drauf. „Du kommst bitte jeden Abend zu mir, damit ich alles abchecken kann. Es sieht so weit ganz gut aus, aber ich gehe lieber auf Nummer sicher", meinte sie zu mir, als sie mich entließ. Dass ich einfach gegangen war, akzeptierte sie und ließ mich jetzt auch offiziell wieder auf mein Zimmer. „Ja, mache ich. Danke", meinte ich mit einem leichtem Lächeln. Auf zwei Krücken gestützt lief ich aus dem Raum. Mir wurde auch ein Rollstuhl angeboten, aber auf den hatte ich verzichtet, auch wenn Natasha ihn für sinnvoll hielt. Irgendwie musste ich ja meine Muskeln wieder aufbauen.

Die nächsten Tage verbrachte ich mit rumliegen und mich langweilen. Die Schlimmsten Wunden waren inzwischen zu kleineren abgeklungen und benötigten keine Verbände mehr, aber alles in allem war ich immer noch sehr angeschlagen. Ich ging so viel es geht, um meine Muskeln wieder aufzubauen, aber ich war sehr schnell total erschöpft und die Schmerzen erleichterten mir die Gehübungen auch nicht gerade. „Ich will hier raus", meinte ich plötzlich zu Wanda, die mit mir am Tisch saß und redete. Sie sah mich überrascht an. „Du kannst noch nichteimal alleine die Treppe runter, du gehst jetzt ganz bestimmt nicht raus", meinte sie verwirrt. Ich sah sie mit meinem -schlechten- Welpenblick an: „Bitte, du kannst ja mitkommen. Und die anderen auch. Einfach nur mal raus aus dem Haus, ich kann mich ja auch einfach nur in die Sonne legen." Sie sah mich an und ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. „Ich frag Nat mal. Aber glaube ja nicht, dass es an diesem miserablen Blick liegt", gab sie nach. Mein Gesicht leuchtete auf. „Danke", sagte ich überschwänglich. Sie stand auf und warf mir einen belustigten Blick zu, bevor sie sich auf den Weg in den Trainingsraum machte.

Nach etwa zehn Minuten öffnete sich die Türe und Wanda kam zurück. Ich sah sie fragend an und sie nickte mir mit einem Lächeln zu. „Ja, danke", jubelte ich und stand auf um sie kurz zu umarmen. „Aber ohne körperliche Anstrengung", sagte sie eine Bedingung und ich nickte sofort zustimmend. „Ich will zum Baggersee", meinte ich und Wanda zog sofort die Augenbrauen zusammen. „Da kann ich in der Sonne liegen, wir können Karten spielen und ihr könnt baden gehen", fuhr ich schnell fort, bevor sie mich unterbrechen konnte. Sie überlegte kurz und nickte dann zustimmend. „Jarvis, sag den anderen Bescheid, dass wir gerne in einer Stunde zum Badesee fahren würden", meinte sie laut und sagte dann zu mir: „Komm, ich helfe dir hoch, dann kannst du dich auch umziehen." Ich nickte mit einem dicken Lächeln und stützte mich auf sie um die Treppe hochzugehen.

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