[1] Prélude, pt. 1

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Rosenranken schnürten sich um seine Finger und ließen dunkle Blüten sprießen. Ruhig führten sie seine Hände über die Klaviatur, ummantelt von einem bittersüßen Duft, der sich Note für Note aus dem Klangkörper löste. Die fallenden Blütenblätter verfingen sich in seinem Haar, verführt von unheilvoller Harmonie.

Dornen trieben aus der Melodie und setzten sich am Flügel und seinem stillen Meister fest. Sie drückten sich mit jeder Vorschlagsnote tiefer in seine Haut, doch er widerstand den feinen Schmerzen. Er hatte diese Rose gepflanzt, ihr zu finsterer Pracht verholfen und erntete nun die Schönheit, die ihr Blütenstand vor der Welt verbergen wollte. Er lockte sie hervor wie ein schwarzer Magier, zündete kaltes Feuer in ihren Blättern und ließ sie erstrahlen wie einen Kometen am Nachthimmel. Er verblendete alles, schuf Träume und Fantasien und nahm sie mit sich in die Finsternis.

Dort, wo er sich am wohlsten fühlte.Wo seine Musik in einem Berg aus Asche und Gräbern zu atmen begann, am Tag seines persönlichen Jüngsten Gerichts.

Valentinstag.

»Verzeihen Sie, Herr, ähm ... Hasitzky?«

Die Töne unter seinen Fingerspitzen verdorrten. Das düstere Motiv wurde vom Kerzenschein getilgt, der den Gastraum in warmen, betörenden Tönen färbte. Hauchzart gewisperte Liebesbekundungen und das feine Klirren des Silberbestecks verzauberten die Atmosphäre, ein Gedicht aus Gefühlen, das auf den Lippen jedes Pärchens lag, das einander seine Zuneigung bekundete. Zärtlich ekelhaft.

»Ein schönes Lied, das Sie da spielen, aber ...« Eine adrett uniformierte Servicekraft beugte sich über Kasimirs Schulter, um ihm ins Ohr zu flüstern. »Ihr Programm wirkt recht melancholisch ... wenn Sie verstehen?«

Kasimir zog die Augenbrauen hoch, woraufhin die Dame verlegen lächelte. Vermutlich war sie vom Restaurantbetreiber vorgeschickt worden, damit der Live-Act des Abends das zahlende Publikum nicht mit seiner Endzeitstimmung vergraulte.

Er seufzte, strich sich die schwarzen Strähnen aus der Stirn und nickte auf das Notenpult über der Klaviatur. »Was soll ich spielen?«

»Nun ja ...« Sie sah sich diskret um, schürzte die Lippen. »Ich kenne mich so gut nicht aus ... etwas Liebenswertes vielleicht?«

»Liebenswert?«, wiederholte Kasimir. Das scheue Lächeln der Kellnerin rang ihm nach einem Moment peinlichen Schweigens ein Nicken ab, ehe sie mit gehauchten Worten des Danks zwischen den vollbesetzten Tischen verschwand.

Kasimir atmete leise aus. Er war es leid, romantische Restaurantdinner bis spät in die Nacht zu vertonen. Wenn er sein Studium auf anderem Weg finanzieren könnte, würde er jetzt mit einem Controller in der Hand auf seiner Wohnzimmercouch sitzen. Neben dem Menschen, dem sein Spiel wirklich etwas bedeutete.

Er rieb sich mit den Fingerknöcheln die Müdigkeit aus den Augen und kramte anschließend einen Bogen Notenblätter aus der dunkelbraunen Ledertasche zu seinen Füßen, die ihm ebendieser Mensch vor genau einem Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Johann Pachelbels Kanon war hoffentlich liebenswert genug für diesen verkorksten Jahrestag, und zu Kasimirs Erleichterung das letzte Stück, das er darbieten musste. In wenigen Minuten war es um zehn, dann endete sein Engagement und dieser Spuk war vorbei.

»Ach herrje, wer hat den denn reingelassen ...?«

Während er die Noten platzierte, sah Kasimir unauffällig über die Schulter. Normalerweise ignorierte er das Getuschel an den Tischen, doch diese Äußerung klang so irritiert, dass sich Neugier in seine Ohren schlich. Mehrere Gäste linsten hinüber zur Garderobe im Eingangsbereich des Saales. Dort, wo gerade ein junger Mann seine Jacke an den Kleiderhaken hing.

Seine neongelb-violett karierte Jacke.

»Über roter Anzughose ...?«, flüsterte es vom Tisch, der dem Flügel am nächsten stand. »Oha. Die Arme, die mit dem verabredet ist ...«

Kasimirs Herzfrequenz stieg an. Er kniff die Lider zusammen, doch die Details blieben seinen kurzsichtigen Augen verborgen. Also beugte er sich ein weiteres Mal zu seiner Tasche herunter, zog sein Brillenetui aus der Lasche und schob sich den Steg seiner Sehhilfe über die Nase.

»Wow ... ich dachte immer, solche Typen gibt's nur im Film.«

Nein. Diese Geschmacklosigkeit war echt. Die Unbekümmertheit, mit der sich der Blondschopf aller verdutzten Blicke zum Trotz im Raum umsah, war echt. Und das Wohlgefühl, das warm durch Kasimirs Brustkorb rauschte, war es auch.

»Mist, er guckt her. Hat der uns gehört?«, murmelte es zu seiner Linken, doch er nahm die Worte kaum wahr. Zu gebannt war er von der Freude in Leonhards Augen, als sich ihre Blicke trafen.

Als er ihm zuwinkte, verlagerte sich das Interesse der benachbarten Tische auf Kasimir, zum ersten Mal an diesem Abend. Kaum zu glauben, dass sein Manager in Sekundenschnelle erreichte, was ihm über mehrere Stunden hinweg nicht gelungen war.

Aber das ließ sich ändern.

Kasimir griff den Kanon vom Pult und ließ ihn wieder in seiner Tasche verschwinden. Leonhards bloßer Anblick brachte seine Fantasie zum Tanzen. Er wollte ein Stück spielen, das den Gästen noch in den Ohren klang, wenn Leonhard und er diesen Ort längst verlassen hatten - und zwar so schnell wie möglich. Er spürte die Ungeduld in seinen Händen prickeln, Euphorie in seiner Brust.

Das war alles, was er brauchte, um die Klaviatur in Stichflammen zu setzen.

Innerhalb weniger Sekunden loderte sie auf; schnell, akzentuiert und zerstörerisch heiß. Mit jedem Anschlag lösten sich Funken aus den Tasten und versengten den Samtteppich unter seinem linken Fuß, während sein rechter über dem Pedal verglühte. Er durfte es nicht berühren, durfte sich an keiner Note festhalten. Das Flammenmeer seiner Interpretation sollte den Saal überschwemmen, sollte jeden dieser schmachtenden Träumer aus seinem Wolkengebilde brennen. Sie sollten sein siedendes Licht in ihren Augen spüren und sich vom Rauch berauschen lassen. So wie er sich selbst berauschte, mit jedem Ton, der ihn dem Ende seiner Vorstellung näherbrachte.

Der ihn ihm näherbrachte.

Dem Jungen, der sein Herz entzündet hatte. Seine Flammen hatten Kasimirs Hemmungen zersetzt und seine Empfindungen implodieren lassen, doch er liebte diesen sengenden Schmerz. Er liebte das Brennen in seinem Kopf, wenn er an ihn dachte, das Knistern unter der Haut, wenn er seinen Körper spürte.

Er liebte alles an Leonhard Valentin. Jeden Funken dieser farbenfrohen Seele, die seine Monochromie zum Schillern brachte.

Applaus wallte auf, während Kasimir sich den letzten Takten Albeniz' feurigen Préludes hingab. Das hier war seine Bühne, sein Publikum, und er präsentierte seine Welt, die innerhalb weniger Jahre von einem Glutnest zum Flächenbrand evolviert war. Der Grund dafür lehnte an der Garderobenwand und konnte den Blick nicht von ihm lassen.

Mehr brauchte es nicht, um den Tag, den er sein Leben lang gehasst hatte, lieben zu lernen.

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🎼 Asturias (Leyenda) - Isaac Albeniz (Kassia)

https://www.youtube.com/watch?v=1sdsfVcxpC0

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt