[54] Elegie, pt. 4

85 16 0
                                    

Der Carport der Rochats befand sich unmittelbar neben Kasimirs Zimmerfenster. Er lag auf seinem Bett, als die Rücklichter des einparkenden Autos rot über die Decke flimmerten. Kurz darauf klackten die Fahrzeugtüren. Gebell schallte durchs Haus, das Licht im Flur ging an. Dann nahm Kasimir Stimmen wahr. Jugendliches Gemaule, ein warmes Frauenlachen. Die Stimme seines Vaters.

Er schloss die Augen, drehte sich auf die Seite, zog seine Decke übers Ohr. Vielleicht schlief er noch einmal ein, vielleicht verlor er seine Erinnerung im Traum.

Vielleicht tat es dann nicht mehr so weh.


🎵🎵🎵


Nach einer halben Stunde rastlosen Wälzens stand Kasimir auf, rieb sich mit den Händen übers Gesicht und sah zu Tür. Bisher hatte niemand geklopft. Am liebsten verbrächte er den Rest des Abends allein, aber er wollte sich wenigstens für die Übernachtungsmöglichkeit bedanken. Also schälte er sich aus seinem Anzug, schlüpfte in legerere Klamotten. Obwohl seine Emotionen seit dem Telefonat am Nachmittag brach lagen, schlug sein Herz fester. Er atmete durch, dann drückte er die Klinke nach unten, setzte seinen Fuß über die Schwelle - und schrak zusammen, als er fast mit seinem Vater kollidierte.

»Oh ...« Alain wich einen Schritt zurück, wirkte mindestens so verschreckt wie er. Er trug eine Jeans und ein weißes Hemd, dessen oberer Kragenknopf geöffnet war. Sein schwarzes Haar fiel ihm zerzaust in die Stirn, als wäre er mehrfach mit den Händen hindurch gestrichen, dunkle Bartstoppeln umrahmten seine Wangen. Was Kasimir auf die Atmung drückte, war jedoch sein Blick. Diese hellen, minzgrünen Augen, in denen gleichermaßen Nervosität und Freude funkelten. »Entschuldige, ich bin nur auf dem Weg ins Bad, mein Hemd wechseln.« Er zupfte an seinem Kragen, lächelte verlegen. »Ich habe nicht vor deiner Tür gewartet. Denk das bitte nicht.«

»Nein, das ... hab' ich nicht gedacht ...«

Die Gefühlstaubheit, die Kasimir stundenlang ans Bett gefesselt hatte, wich Anspannung. Er senkte den Blick und presste die Lippen leicht zusammen, fühlte sich plötzlich hilflos. Wie sollte er reagieren? Was sollte er sagen?

»Du siehst müde aus.« Alains Stimme klang ruhig. »Du hast eine lange Reise hinter dir. Konntest du ein bisschen schlafen?«

Kasimir nickte. Er war nicht müde, nur erschöpft von der brennenden Wehmut in seiner Brust. Aber es war gut, dass Alain seine verquollenen Augen als Schläfrigkeit interpretierte.

»Hast du schon gegessen?« Alain lächelte, als Kasimir den Kopf schüttelte. »Wir haben auf dem Heimweg etwas mitgebracht. Ich hoffe, du magst es.« Er deutete mit der Hand den Flur hinunter, in einem der Räume brannte Licht. »Adèle freut sich, dich zu sehen. Die Jungs auch. Geh' ruhig vor, ich ziehe mich kurz um.«

»Okay ...«

Kasimir sah erst auf, nachdem er das Klacken der Badtür vernahm. Dann legte er die Hand an die Brust. Sein Herz klopfte wie wild, obwohl er sich völlig ausgelaugt fühlte. Kaum zu glauben, wie stark ein Gespräch mit seinem Vater die bisherigen Ereignisse überschattete.

Es dauerte fast eine Minute, ehe er Mut fasste, sich dem Rest der Familie zu stellen. Er schlich vor die Küchentür und räusperte sich leise, woraufhin sich alle drei Rochats gleichzeitig zu ihm drehten. Jean sah nur kurz vom Küchentisch auf, dann widmete er sich seinem Smartphone. Martins Blick hielt länger und wirkte distanzierter. Seit ihrem Kennenlernen bei Kasimirs Konzertdebüt war er in die Höhe geschossen, sein blondes Haar reichte ihm bis zur Schulter. Statt der ehemals braven Karoshirt-Cordhosen-Kombination vermummte er sich mit einem übergroßen schwarzen Hoodie, auf dessen Kapuze ein grellrotes ғᴜᴄᴋ ᴏғғ prangte.

»Kasimir!«

Adèle stand mit einem Obstmesser in der Hand vor der Spüle, Orangenscheiben türmten sich auf einem Holzbrett. Sie legte ihr Schnitzgut beiseite, wischte sich die Hände an ihrer geblümten Schürze ab und trat zu ihm, nahm ihn fest in den Arm. Der angenehme Duft ihrer geflochtenen, blonden Haare stieg Kasimir in die Nase, ihre weichen Wangen drückten auf seinen Kiefer. Er schloss vorsichtig die Arme um ihren Oberkörper.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt