[32] Ayre, pt. 2

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Als Kasimir das Reisegepäck über die Bahnsteigkante in den Zug hievte, wurde ihm flau im Magen. Leonhards Koffer war viel leichter als seine Tasche; wahrscheinlich hatte er nur das Nötigste dabei. Wie war er in den letzten zwei Wochen zurechtgekommen? Hatte er sich in seinem Zustand überhaupt versorgen können?

Das schlechte Gewissen knabberte an Kasimirs Selbstachtung, während er die Gepäckstücke in der Ablage verstaute. Wenn er in der Erkältungszeit flachgelegen hatte, war Leonhard immer bei ihm gewesen. Er hatte sich um den Haushalt gekümmert und Paulas Mitschriften von den Univeranstaltungen kopiert, ohne seine eigene Arbeit zu vernachlässigen. Auf diese Weise hatte Kasimir weitgehend stressfrei sein Siechtum überwunden. Und er überließ ihn sich selbst.

Kasimir schüttelte den Kopf, richtete den Blick ins Großraumabteil. Er konnte sein kuratives Versagen wiedergutmachen, indem er seinem Partner jetzt zur Seite stand. Zwar war er nicht sicher, ob Leonhard die Funkstille der letzten Tage einfach hinter sich ließ, aber er wollte ihm zumindest die Hand reichen, wie Pavel gesagt hatte.

Wenn er die Möglichkeit dazu bekam.

Auf dem Weg durch den Gang hielt Kasimir nach seinem reservierten Platz Ausschau - und blieb vor einem freien Doppelsitz stehen. Skeptisch verglich er die Nummer auf seinem Ticket mit jener auf der Anzeige über dem Sitz. Ernüchterung legte auf seine Stirn.

Verbannte Leonhard ihn auf einen Einzelplatz?

Er suchte mit dem Blick die Reihen ab. Etwas weiter vorn erkannte er Leonhards Bommelmütze, die über eines der Kopfpolster hinausragte. Sein Freund saß am Gang, der Platz neben ihm war offenbar besetzt. Er schien bereits zu dämmern; sein Kopf ruhte leicht nach vorn geneigt über seiner Brust.

Kasimir ergab sich seinem Schicksal und ließ sich frustriert in seinen Sitz fallen. Wahrscheinlich würde es nicht leicht werden, Janas Bitte Folge zu leisten.

»Kannst du bitte kurz aufstehen?«

Die tiefe Stimme ließ Kasimir unmittelbar wieder aufsehen - direkt in Elias Arendts kantiges Gesicht. Er trug einen eleganten schwarzen Kurzmantel, der ihn wie einen Geschäftsmann wirken ließ, und ein ebenso vornehmes Schmunzeln legte sich auf seine Lippen, als Kasimirs Mimik versteinerte. Dann deutete er auf den unbesetzten Fensterplatz.

»Oh ... ja, sicher.«

Kasimir erhob sich, um Elias durchzulassen. Als er an ihm vorbeitrat, strich ihm das Aroma der Zigarette um die Nase, die Elises Bruder eben geraucht hatte. Sofort breitete sich ein seichtes Verlangen nach Nikotin in seinem Körper aus.

»Ich dachte, du sitzt neben deiner Schwester ...«, murmelte Kasimir, nachdem er sich wieder gesetzt hatte. Elias entledigte sich seines Mantels, wobei eine Woge seines ozeanhaften Parfüms hinüberschwabbte. Es war ein angenehmer Duft, der sich mit der Rauchnote vermischte und Kasimir gegen seinen Willen in seinen Bann zog.

»Sie sitzt bei deinem Freund.« Elias befestigte seinen Mantel am Haken, nickte zu Leonhards Sitzreihe. Kasimir bemerkte erst jetzt die gelockten Strähnen, die munter über das Kopfpolster auf dem Nebensitz sprangen. »Er hat darauf bestanden, seinen Platz mit mir zu tauschen. Hoffe, das ist okay.«

Wie bitte?

Kasimir biss die Backenzähne zusammen. War Leonhard seine Nähe so zuwider, dass er sich absichtlich von ihm wegsetzte? Kasimir hatte nicht erwartet, dass er ihm freudestrahlend entgegenstürmte, wenn sie sich wiedersahen. Aber das ging einen Schritt zu weit.

Als er plötzlich eine Berührung am Knie spürte, zuckte er zusammen. Elias' Bein war nah an seinem, zu nah für Kasimirs Komfort. Als er instinktiv von ihm wegrückte, nahm Elias' Lächeln verlegene Züge an.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt