[22] Elysium, pt. 1

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»Also. Am Schlussstrich lässt du die Phrase elegant auslaufen. Denk an die leicht federnde Hand, amabile. Versuch es mit etwas mehr Gefühl, okay?«

»Okay ...«, murmelte Leo und begann von neuem mit der verträumten Melodie Chopins ›Souvenir de Paganini‹. Obwohl er sich darauf gefreut hatte, die Etüde mit Elises Hilfe zu arrangieren, fand er keine Linie in seinem Spiel. Seine Finger bewegten sich schwergängig über die Klaviatur des roten Bechsteins, der eigentlich geschmeidige Lauf der Noten glich einer Stolpertour, und seine Aufmerksamkeit litt unter der angestauten Müdigkeit der letzten Tage. Es ärgerte ihn, dass er ausgerechnet heute, da Elise sich endlich eine Stunde Zeit für ihn nehmen konnte, alles andere als spieltauglich war.

»Gut, das reicht. Gönn dir eine Pause«, sagte sie, nachdem er dreimal an derselben Passage ins Stocken geraten war, und nickte zur Tür. »Ich brühe uns einen Tee. Wie klingt das?«

»Als wäre ich ein hoffnungsloser Fall.« Leo schmunzelte müde, rieb sich mit den Handballen über die Augen. »Tut mir leid. Irgendwie bekomme ich nichts auf die Reihe.«

»Einen schlechten Tag hat jeder mal. Immerhin spielst du besser, als du aussiehst.«

Nachdem Elise im Foyer verschwunden war, nahm Leo die Hände vom Gesicht und betrachtete sein Spiegelbild in der Lackierung des Klavierkastens. Er sah aus wie ein Dachs, der unsanft aus dem Winterschlaf geweckt worden war. 

»Zu spät ins Bett gegangen?« Elise schob sich mit zwei dampfenden Tassen Früchtetee durch die Tür. Ihr moosgrünes Strickkleid über gelber Wollstrumpfhose wirkte viel zu munter für die Regenwolken jenseits der Fenster. »Die Pianovision hält dich auf Trab, was?«

»Schön wär's.« Leo nahm die wohltuend warme Keramiktasse entgegen. »Kasi ist derjenige, der unter Druck steht. Er ist vor einer Woche aufs Sofa umgezogen, damit er näher am Klavier ist, falls ihm nachts eine Eingebung kommt.«

»Im Ernst? Wow. Er kniet sich echt rein.«

»Mhm«, machte Leo und nippte an seinem Heißgetränk. Wenn er das sicher wüsste.

Kasimir redete nicht. Weder über seinen Alltag noch die Vorbereitung auf die Pianovision. Er trank morgens eine Tasse Instantkaffee und verließ die Wohnung meist vor Leo. Am Abendbrottisch gab er bis auf ein paar Satzfetzen nichts von sich preis und wirkte abwesend, wenn Leo sich während einer seiner wenigen Videospielsessions auf der Couch an seine Schulter schmiegte. Mittlerweile machte ihm der fehlende Zugang zu Kasimirs Gefühlswelt so zu schaffen, dass ihm die nächtlichen Grübelphasen den Schlaf raubten.

»Alles in Ordnung?«, fragte Elise, nachdem er sekundenlang apathisch in seine Tasse gestarrt hatte. Er seufzte.

»Ich weiß nicht. Manchmal frage ich mich, ob die Teilnahme an der Pianovision ein Fehler ist.«

»Wieso?«

»Ach, keine Ahnung ... Kasi setzt sich mit der Komposition viel zu sehr unter Druck. Dazu kommt diese hartnäckige Erkältung ...«

»Erkältung?« Elise ließ sich neben ihm auf den Stuhl sinken, sah ihn besorgt aus ihren himmelblauen Augen an. »Er ist krank?«

»Ja. Seit der Qualifikation schleppt er irgendwas mit sich rum. Er bekommt schlecht Luft, zittert ständig, ist extrem reizbar ...«

Leo zögerte. Es gefiel ihm nicht, hinter Kasimirs Rücken über ihn zu sprechen. Zudem schienen Elise die Neuigkeiten zu schaffen zu machen. Die Leichtigkeit wich aus ihren Augen.

»Ich mache mir Sorgen, dass er sich übernimmt«, fuhr Leo mit gesenktem Blick fort. »Vielleicht tut er das nur, um mir eine Freude zu machen.«

»Wieso glaubst du das?«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt