[59] In Memoriam

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Es schüttete wie aus Gießkannen über dem Tal. Jean legte die Distanz zwischen Carport und Haustür im Sprint zurück, um sein Gepäck trocken im Kofferraum zu verstauen. Alain und Kasimir blickten im Schutz der Veranda hinauf zum Gipfel des Moléson. Eine Nebelwand ummantelte ihn, drückte den Regen wie ein Schwamm über dem Land aus.

»Darum hatte Adèle es so eilig ...« Alain betrachtete besorgt den trüben Himmel, anschließend seinen SUV. »Hoffentlich ist sie schon in der Musikschule. Ausgerechnet diese Woche ist sie aufs Fahrrad angewiesen.«

»Wenn ihr bessere Jobs hättet, könnten wir uns zwei Autos leisten«, meinte Jean im Vorbeigehen, griff eine hellblaue Sporttasche von den Fliesen und machte sich wieder auf den Weg zum Kofferraum. »Keine Sorge, sobald ich bei den Lakers spiele, spendiere ich euch 'ne S-Klasse.«

Alain schüttelte schmunzelnd den Kopf, dann betrachtete er seine Hände. »Ich hätte nie etwas anderes werden können als Pianist. Vielleicht habe ich einen fragwürdigen Branchenzweig gewählt. Aber ihr könnt alles anders machen.«

Er legte seinen Arm um Kasimirs Schulter und drückte ihn an sich. Kasimir versteifte sich, aber immerhin blieb ihm nicht mehr die Luft weg. Er gewöhnte sich allmählich an Alains Zuwendung, die Herzlichkeit dieser Familie. Schade, dass die Harmonie vorübergehend ihr Ende fand.

»Kann ich die Klappe zumachen?«, rief Jean vom Carport herüber und deutete auf den Kofferraum. Ein diebisches Grinsen schlich sich auf die Lippen seines Vaters.

»Du kannst die Klappe immer zumachen, Kind.«

»Wow, Dadjoke.« Jean rollte mit den Augen, schloss den Kofferraum und eilte zur Beifahrertür. »Quatscht nicht so lange, ich will nicht als Letzter dort ankommen.« Er stieg in den Wagen und zog die Tür zu, hielt im letzten Moment inne und steckte den Kopf durch den Spalt. »Ciao, Kasi! Lass dich nicht von Martin ärgern.«

Kasimir hob zum Abschied die Hand und blickte anschließend durch die geöffnete Haustür in den dunklen Flur. Beinahe im selben Moment wurde Alains Griff fester.

»Mach dir keine Sorgen, wir sind nur eine Woche weg. Wenn etwas sein sollte, sprich mit Adèle, in Ordnung? Und du kannst mich jederzeit anrufen. Wenn du reden willst, wenn du traurig bist ... egal wann.«

»Okay ...« Kasimir schabte mit den Schuhsohlen über die Fliesen. Alains Worte klangen, als sei er derjenige, der Zuspruch brauchte. Martin litt vermutlich viel stärker unter der Funkstille, die seit dem Eklat zwischen ihm und seinem Vater herrschte. »Willst du nochmal reingehen? Ihm tschüss sagen?«

Alain stemmte seufzend die Hand in die Hüfte. »Ich hab's versucht. Er hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Aber das wird schon wieder. Spätestens, wenn er Hunger bekommt, lässt er sich blicken.«

Sein Tonfall klang lapidar, doch das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Vermutlich belastete ihn die Situation mehr, als er zeigen wollte. Ein Konflikt, zu dem es ohne Kasimirs Anwesenheit nie gekommen wäre.

»Tut mir leid, dass ich ...«, begann Kasimir, biss sich auf die Lippen. Er wollte damit aufhören. Es half niemandem, wenn er sich permanent für seine Existenz verurteilte. »Ich meine ... meinetwegen müsstest du nicht so streng mit ihm sein. Martin kann nichts dafür, wenn er jemanden nicht mag.«

»Du bist nicht jemand, Kasimir. Du bist sein Bruder.«

Ein Schauer rann über Kasimirs Rücken. Wenngleich seine Ähnlichkeit mit Alain nicht zu leugnen war, erschien ihm ihre Verwandtschaft noch immer surreal.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt