[65] Bagatelle, pt. 1

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Ein Schneesturm fegte durch den Grande Salle. Eiskristalle splitterten von den Tasten, ein Blizzard aus Notenflocken gefolgt von einer Basslawine, die den Konzertsaal in ein Winterparadies verwandelte.

Bei dreißig Grad Außentemperatur.

»Ich hätte eine Jacke mitnehmen sollen.« Leo rieb sich mit den Händen über die nackten Oberarme. Der kurze Weg vom Hotel zur Philharmonie hatte ihn ins Schwitzen gebracht, doch der Saal war derart gut klimatisiert, dass ihm sein gelbes Sommershirt zum Verhängnis wurde. Selbst die aufgedruckten Bienen auf dem Stoff bibberten.

»Willst du mein Tuch?« Elise wickelte es sich vom Hals, obwohl Leo den Kopf schüttelte. Sie breitete es über seinen Schultern aus und rutschte etwas näher heran. »Beim Spielen wird dir warm.«

»Mhm ...«

Leo schlang das himmelblaue Seidentuch enger um seinen Oberkörper und tippte ungeduldig mit dem Fuß aufs Parkett. Allmählich machte ihm die Warterei zu schaffen. Jeder Teilnehmer hatte ein individuelles Spielzeitfenster am Tag vor der großen Show, und Dawid überzog seines seit zehn Minuten. Er hatte sich in einen Rausch gespielt, schien alles außerhalb seines Eispalastes auszublenden.

»Sollen wir langsam was sagen?«, meinte Leo, woraufhin Elise auf ihre Armbanduhr blickte.

»Unsere Probe beginnt regulär erst in fünf Minuten. Lassen wir ihn noch die Pause nutzen.«

»Okay ...«

Leo wusste selbst nicht, weshalb er so ruhelos war. Dawid war sein Freund, er wünschte ihm, dass er sich bestmöglich vorbereitete. Trotzdem drückte die Anspannung seine Stimmung.

»Bist du aufgeregt?« Elise legte ihm mutmachend den Arm um die Schultern. »Mach dir keine Sorgen. Die letzten Tage liefen super, die Einsätze sitzen. Wir spielen absolut synchron.«

»Ich weiß ...«, murmelte Leo und lehnte seinen Kopf in ihre Halsbeuge. Seit ihrem Gespräch im Park fühlte er sich ihr emotional verbunden. »Es ist nur ... keine Ahnung, belastend.«

»Dass morgen die große Show stattfindet?«

»Nein. Doch ...«

Leos Blick wanderte durch den Konzertsaal. Das goldene Motiv verschmolz mit der geschwungenen Architektur der Ränge. Die Akustik war glasklar, adelte den schneeweißen Steinway auf der Bühne. Dennoch fühlte Leo nicht dieses wohlige Kribbeln, das ihn vor einem Auftritt normalerweise elektrisierte.

Jemand fehlte.

»Dawid ist ein außergewöhnlicher Pianist.« Elise betrachtete den Flügel, wo Dawid zum dritten Mal das Finale seiner Komposition einleitete. Seine Haltung folgte der eisigen Melodie, seine Finger arpeggierten durch den Schnee. Dennoch strahlte Hitze von ihm ab, Enthusiasmus, Feuer. »Schau dir Lias an.«

Elises Bruder saß mit einem Zeichenblock auf dem Schoß in der ersten Reihe, skizzierte Dawid während seiner Darbietung. Der Bleistift in seiner Hand glitt flink über das Papier. Selbst aus der Entfernung erkannte Leo, wie detailliert er das, was er sah, in Linien und Strichen verewigte.

»Meinst du, er versucht es nochmal mit dem Kunststudium?«

Elise schwenkte abwägend den Kopf, ihre dunklen Strähnen sprangen Leo ins Gesicht und kribbelten in seiner Nase.

»Vielleicht. Dawid hat angeboten, ihm in München bei der Wohnungssuche zu helfen, wenn er sich dort einschreibt.«

»Okay. Scheint ihm ernst zu sein.«

»Ja ... aber ich weiß nicht, ob Lias Berlin verlassen wird.«

Leo verfolgte mit halb geschlossenen Lidern, wie Dawid aufstand und sich theatralisch vor seinem einzigen Zuhörer verbeugte. Elias' starre Mimik löste sich, er lachte sogar ein wenig. Die Emotionen standen ihm, weichten Leos Argwohn auf. Es war eine zarte Vertrautheit, die zwischen Elias und Dawid knisterte. Und sie drückte ihm unweigerlich aufs Herz.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt