[55] Elegie, pt. 5

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Eine halbe Stunde nach Erlöschen des Flurlichts drückte Kasimir die Klinke seiner Zimmertür nach unten, schloss die Finger um den Riemen seiner Tasche und trat nach draußen. Sein Blick wanderte zur Treppe, auch im Obergeschoss war es finster. Die Familie war endlich schlafen gegangen.

Vorsichtig tastete er sich mit den Fingerspitzen über die Wand, die Haustür im Fokus. Seine Orientierung litt unter der Düsternis, doch er wollte nicht bei seiner Flucht ertappt werden. In einer Minute war er verschwunden, fiel seinem Vater nicht zur Last. Und lief nicht Gefahr, noch einmal vor jemandem die Fassung zu verlieren.

Auf halber Strecke streifte Kasimir mit den Fingern die Wohnzimmertür und zuckte zusammen, als sie unter einem Quietschen nachgab. Sein Blick schnellte zum Treppenaufgang, doch es war unwahrscheinlich, dass jemand das Geräusch bemerkt hatte. Er wandte sich wieder der Tür zu. Hinter dem Spalt war es etwas heller als im Flur, vermutlich fiel Mondlicht durch die Fensterscheiben. Irgendetwas funkelte mitten im Raum, schwarz und doch lebendig. Kasimir ließ seine Tasche auf den Boden sinken und schob die Tür so achtsam auf, dass die Scharniere schwiegen. Er betrat das Wohnzimmer zum allerersten Mal, konnte kaum etwas erkennen. Umso stärker bündelte das Objekt im Herzen des Raumes seine Aufmerksamkeit.

Ein nachtschwarzer Konzertflügel. Alains Klavier.

Kasimirs Finger krampften sich um den Türrahmen. Es war ein majestätischer Anblick. Der Raum wirkte viel zu klein für diesen Giganten, dennoch fügte sich das Instrument seiner Heimat. Wie ein Magnet zog es Kasimir zu sich, zwang ihn, den Lack zu berühren, das Verdeck anzuheben. Es war ein meisterlich verarbeiteter Steinway. Die Tasten strahlten trotz des Zwielichts, als wären sie frisch geschliffen. Martins Spiel am Nachmittag hatte Kasimir ahnen lassen, dass sein Vater sich nicht mit einem einfachen Modell zufriedengab. Allerdings nicht, dass es einem Konzerthaus würdig war.

»Willst du es probieren?«

Kasimir zog die Hand zurück, sein Blick schnellte zur Couchlandschaft gegenüber dem Flügel. In den Polstern erkannte er die Silhouette eines Menschen, sein Gesicht lag im Schatten. Allein das Glas in seiner Hand fing das Mondlicht ein.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.« Alain stellte sein Glas auf den Couchtisch und erhob sich, trug offenbar einen Schlafanzug. »Hier hat man die beste Sicht auf den Himmel, deshalb dachte ich ...« Er verstummte, auf seinen Lippen lag ein Schmunzeln. Sein Blick ruhte einen Moment auf Kasimir, glitt anschließend zur Tür. »Du kannst wohl auch nicht schlafen.«

Kasimir folgte seinem Wink, seine Tasche stand abreisefertig im Türrahmen. Es brauchte kein detektivisches Gespür, um sein Vorhaben zu durchschauen.

Alain trat näher, legte seine Hand auf den Klavierdeckel, strich sanft darüber. Das einfallende Mondlicht brachte vereinzelt silberne Haare in seinem Schopf zum Schimmern.

»Sie ist schön, nicht?«, wisperte er, trommelte mit den Fingern auf die Oberfläche. »Ich habe sie den Wiener Philharmonikern abgekauft. Für den Kredit hätten wir uns ein doppelt so großes Haus leisten können. Adèle ist heute noch sauer.« Ein nostalgisches Lächeln umspielte seine Lippen. Er trat einen Schritt näher, bis seine Hände an die Klaviatur reichten. Kasimir war so verwirrt, dass er vergaß, zur Seite zu weichen.

»Sie ...

»Églantine.«

Alain tippte das hohe D so zart an, dass der Saite kein Ton entwich. Genauso wenig wie Kasimirs Lippen. Er stand wie versteinert da, während sich der vergrabene Kummer einen Weg an die Oberfläche schuf. Das Klavier trug dieselbe Bezeichnung wie Alains Signatur.

Das Lied, das Kasimir ihm gestohlen hatte.

Kasimirs Fingerspitzen zuckten. Er vergrub sie in den Hosentaschen, konzentrierte sich aufs Atmen, aber der Schmerz drückte auf seine Kehle. Plötzlich spürte er Alains Hand am Oberarm und bemerkte, wie sein Vater zum Tisch nickte. Auf der Oberfläche standen zwei Gläser.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt