[24] Elysium, pt. 3

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Ein Schauer zog über Dahlem, als Kasimir aus der Praxistür in den Berliner April trat. Er zog sich die Kapuze über den Kopf und hielt auf den angrenzenden Park zu. Einerseits, um unter dem Blätterdach der frisch belaubten Bäume Schutz vor dem Regen zu suchen. Zum anderen brauchte er Ruhe, um den Mut aufzubringen, Eriks Ratschlag zu befolgen.

»Sprich mit Leon. Nur so wirst du am Ende glücklich.«

Unter der Krone einer alten Eiche ließ er seine Tasche auf die Wiese fallen und setzte sich im Schneidersitz daneben. Der Himmel über ihm war wolkenverhangen, in der Ferne hörte er dumpfes Donnergrollen. Es war die perfekte Stimmung, um einen Schlussstrich unter sein Martyrium zu ziehen. Alles in ihm sträubte sich davor, bei der Pianovision anzutreten. Wie sehr ihn der Gedanke schmerzte, Dawid, Jana und Leonhard zu enttäuschen, er konnte sich nicht länger selbst verleugnen.

Kasimir zog sein Smartphone aus der Hosentasche. Er würde Leonhard schriftlich mitteilen, dass er seine Teilnahme zurücknahm. Auf diese Weise lief er nicht Gefahr, beim hoffnungsvollen Klang seiner Stimme einzuknicken. Allerdings schien sein Freund einem ähnlichen Gedanken gefolgt zu sein. Während Kasimir mit Erik gesprochen hatte, waren drei Nachrichten von Leonhard eingegangen.

›hey, können wir heut abend reden?‹

›geht um die PV‹

Kasimir starrte auf die Chatkacheln, sein Herzschlag verdoppelte sich. Die letzte Nachricht brachte seine Überzeugung ins Wanken.

›mach dich nicht fertig wegen dem lid. Es gibt eine lösung also enspann dich, ja? du must nichts mehr machen‹

Das Wettergrollen wurde lauter, feine Nieseltropfen hinterließen konzentrische Schlieren auf der Oberfläche des nahegelegenen Teiches. Das Wummern wanderte von Kasimirs Brust hinauf bis zur Schläfe, löste fest verklebte Gedanken aus den dunkelsten Regionen seines Bewusstseins.

Wofür hältst du dich? Er hat dich längst aufgegeben.

Kasimir atmete ruckhaft ein, verschluckte sich an der diesigen Luft und musste husten. Nein, das war falsch. Leonhard wusste nichts von seinen Zweifeln, er hatte sich so zusammengerissen. Er durfte ihn nicht fallenlassen, nicht, bevor er das Sicherungsseil selbst durchtrennte.

Er hat nie an dich geglaubt. Niemand glaubt an dich.

Kasimir hielt sich mit zusammengepressten Lidern die Stirn, atmete immer flacher. Das war nicht, was er wollte. Leonhard war immer auf seiner Seite gewesen, hatte ihn gegenüber den größten Widerständen bestärkt. Wie konnte er ihm nach allem, was sie zusammen durchgestanden hatten, seine Unterstützung entziehen? Kasimir wollte nicht in diesem Licht von ihm gesehen werden. So durfte dieses Kapitel nicht enden.

»Wieso fragst du nicht deinen Vater um Rat? Er hilft dir bestimmt gerne.«

Kasimir öffnete die Augen, sah über die Grünflächen hinweg zur angrenzenden U-Bahnstation. Cecilies Worte überstimmten das Donnergrollen, trafen ihn tiefer als die herannahende Schlechtwetterfront. Und sie waren das Einzige, das er hatte.

Zögerlich nahm er sein Smartphone zur Hand, wählte Alains Kontakt. Er hatte seit Monaten nicht mit seinem Vater gesprochen, die verpassten Anrufe aus der Schweiz trotz schlechten Gewissens ignoriert. Nun, da ihm das Wasser bis zum Hals stand, ihm keine andere Möglichkeit mehr blieb, kam er angekrochen.

Was für ein mieser Sohn du bist.

Das Knistern der angenommenen Telefonverbindung hemmte Kasimirs Gedanken, seine Handflächen schwitzten.

»Kasimir!«

Alains fröhliche Stimme ließ Kasimirs Atem stocken. Er brauchte einen Moment, um sich eine Erwiderung über die Lippen zu quälen. Das minderte Alains Freude nicht im Geringsten.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt