[33] Hammonia, pt. 1

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Die Elbphilharmonie stach wie ein facettierter Kristall in den stahlblauen Hamburger Himmel. Kasimir stolperte über seine Füße, während er sich dem eleganten Ungetüm näherte, das ihm den größten Auftritt seines bisherigen Lebens versprach. Er konnte den Blick nicht abwenden von den gläsernen Fragmenten, die im Schein der untergehenden Sonne rotviolett funkelten. Das Backsteinfundament verlieh dem Konzerthaus hanseatische Pracht, während der sanfte Strom der Elbe seine Lebendigkeit betonte.

Dieses musikalische Momentum war das Beeindruckendste, was Kasimir jemals gesehen hatte.

»Bist du zum ersten Mal in Hamburg?«

Elias' Stimme zog ihn aus seinen Träumereien, und Kasimir wandte sich ihm mit einem beklommenen Nicken zu. Er hatte völlig ausgeblendet, dass er den Weg durch die Speicherstadt nicht allein zurücklegte. Elias schmunzelte, betrachtete das anmutige Bauwerk mit ähnlicher Faszination. Kaum zu glauben, dass in diesen tiefblauen Augen noch vor einer Stunde ein flammendes Inferno gelodert hatte.

»Elise hat vor einigen Jahren hier gespielt«, fuhr er fort, nostalgische Zerstreutheit färbte seine Worte. Kasimirs Blick wanderte unwillkürlich zu seiner Schwester, die mit Leonhard ein Stück vorauslief. Sie redete ununterbrochen, zeigte fidel auf verschiedene Gebäude, die sie passierten. Offenbar versuchte sie, Leonhard mit ihrer Quirligkeit aufzumuntern. »Ein Benefizkonzert zur Unterstützung von Kriegskindern, kurz vor Weihnachten. Ihr letzter großer Auftritt.«

»Vor dem Unfall?«, fragte Kasimir, als sie über die Hubbrücke liefen, die zur Elbphilharmonie auf dem Kaiserkai führte. Elias nickte, seine Schritte verlangsamten sich. Womöglich berührte ihn die Erinnerung, doch er ließ sich nichts anmerken. »Was ist eigentlich passiert?«

»Sie hat sich mit ihrem Auto überschlagen.«

Elias' Worte drückten wie eine Bleiplatte auf Kasimirs Brust, reaktivierten seine Schuldgefühle. Ein Autounfall. Genau wie bei Leonhard. »Ist sie, ähm ... selbst gefahren?«

»Ja. Aber es war nicht ihre Schuld«, antwortete Elias. Sein Schritttempo wurde schneller, die Betonung seiner Worte schärfer. »Nicht im Geringsten.«

»Verstehe ...«

Kasimir ließ sich zurückfallen. Er fühlte sich nicht wohl mit der Thematik, hatte das Bedürfnis, Elias ein wenig Freiraum zuzugestehen. Was auch immer diesen verschlossenen Mann innerlich aufwühlte, es ging ihn nichts an.

Und blieb besser tief vergraben.

🎵🎵🎵

Das Hotel, in dem die Kandidaten des Vorentscheids untergebracht waren, befand sich oberhalb der Konzertsäle in der gläsernen Spitzkuppel der Philharmonie. Auf halbem Weg nach oben machten sie auf der Plaza halt, einer gewaltigen Außenterrasse, von der aus sich ein grandioser Rundumblick auf die HafenCity und die Speicherstadt bot. Elise hopste fröhlich wie ein Grundschulkind über die Plattform und knipste Fotos, während ihr Bruder die Pause an der frischen Luft nutzte, um in einer ruhigen Ecke zu rauchen.

Kasimir blieb am Fahrstuhl zurück. Zum einen, weil er sich dem Einfluss von Elias' Nikotinschwaden entziehen wollte. Zum anderen hatte sich Leonhard erschöpft auf einer schmalen Steinbank in der Nähe niedergelassen, und Kasimir wollte im Ernstfall an seiner Seite sein.

Er beobachtete unauffällig, wie sein Freund zum ersten Mal an diesem Tag die Atemschutzmaske von seinem Gesicht löste und tief einatmete. Erst jetzt wurde das Ausmaß Leonhards Martyriums sichtbar. Seine Haut war aschfahl, die Wangen eingefallen, unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab. Er war nicht nur krank, sondern hatte auch merklich abgenommen. Der bloße Anblick, wie kraftlos er die Ellenbogen auf die Knie stützte und sich mit einer Hand den Bauch hielt, machte Kasimir zu schaffen.

»Alles in Ordnung?« Er trat achtsam ein paar Schritte auf seinen Freund zu. Leonhard sah kurz auf, widmete sich jedoch sofort seinen Schuhen. Der goldene Glanz, der normalerweise seinen Blick erhellte, war aus seinen Augen gewichen.

»Ja. Alles gut.«

»Warst du beim Arzt?«, wollte Kasimir wissen. Als Leonhard schwach den Kopf schüttelte, verzog er den Mund. »Komm schon ... jeder sieht, wie dreckig es dir geht.«

»Ich hatte keine Zeit, okay?« Leonhard sah auf, seine Stimme klang trotz ihrer Mattheit gereizt. »Ich musste dieses Event vorbereiten.«

»Das ist kein Grund, deine Gesundheit zu vernachlässigen.«

»Sagt der Richtige. Du hast dich doch auch wochenlang nicht ... a-au ...«

Die Hand über seinem Bauch krampfte, er presste die Lider zusammen und beugte sich nach vorn. Sofort zuckte Sorge durch Kasimirs Brust. Er ging vor Leonhard in die Hocke, legte ihm die Hände auf die Knie.

»Leo, das ist Wahnsinn. Du bist absolut nicht in der Lage, aufzutreten.«

»Lass mich ... einfach in Ruhe ...« Leonhard bemühte sich, seine Schmerzen wegzuatmen. Dann wollte er sich aufrichten, sank jedoch mit leidverzerrtem Gesicht zurück. Kasimir sah ihm an, wie sehr ihn seine Hilflosigkeit frustrierte, und bot ihm seinen Arm an. Leonhard zögerte, hakte sich jedoch unter und erhob sich mit einem gepeinigten Seufzen. Sein Körper glühte, gleichzeitig schien er zu frösteln.

»Die Hotellobby ist ein paar Stockwerke höher«, flüsterte er, während sie gemeinsam zum Fahrstuhl trotteten. »Wir müssen vor acht einchecken.«

»Okay ...« Kasimir legte den Arm vorsichtig enger um Leonhards Taille. Sogar durch den Stoff seiner Jacke spürte er, dass sein Freund Gewicht verloren hatte. Dennoch klopfte sein Herz unter dem unverhofften Kontakt heftiger. Unabhängig davon, wie sauer ihn Leonhards Verhalten noch immer machte - er hatte seine Nähe vermisst.

Als sie den Aufzug erreichten, bewegte sich dieser gerade aus höheren Etagen abwärts. Aus dem Augenwinkel sah Kasimir, dass Leonhard sich mit verbissener Miene den Bauch hielt.

»Willst du vorher nochmal zur Toilette?«, fragte er. Leonhard antwortete nicht, presste jedoch mehrmals nacheinander den Fahrstuhlknopf, als könnte er damit den Prozess beschleunigen. Tatsächlich hielt der Lift kurz darauf auf ihrer Ebene. Leonhard schob sich durch die Tür und zog Kasimir mit hinein, wollte ihn offenbar bei sich haben. Während sie nach oben fuhren, ergriff er sogar seine Hand. Kasimir erschauderte, Leonhards Finger schwitzten kalt. Er erwiderte den Druck sanft, streichelte seinem Freund mit dem Daumen über den Handrücken und sprach ihm gut zu, als sich die Türen schließlich mit einem pling! öffneten. Allerdings gelang es weder ihm noch Leonhard, den Fahrstuhl zu verlassen. Der Grund dafür stand überrascht auf der anderen Seite der Tür, starrte Kasimir direkt in die Augen - und fing an, breit zu grinsen.

»Na da schau an ... wenn das nicht meine Lieblingshasen sind.«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt