[76] Ballade, pt. 3

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Leo schob sich zwischen den Gästen hindurch, wich den langen Kleidersäumen am Fußboden aus. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er war nicht sicher, ob er Jana richtig verstanden hatte. Aber das würde sich gleich klären.

»Elise!«, rief er, nachdem er die Gruppe um den französischen Kandidaten passiert hatte. Seine Duettpartnerin lehnte an der Wand, hielt ein Smartphone auf Augenhöhe. Sie sah kurz auf, lächelte und hob winkend ihren Prothesenarm. Leo hatte sich nicht getäuscht, sie trug gewöhnliche Jeans und einen braunen Cardigan, ihr Haar war wild in einen Zopf gequetscht. Das war definitiv kein Bühnenoutfit.

»Hey, du ...«, begann Leo und verstummte, da Elise dicht an ihn herantrat und ihn kurzerhand in ihr Videotelefonat involvierte.

»There he is«, sagte sie und strahlte in die Displaykamera. »Leo, my best student.«

»Hey, nice to meet ya.«

Ein junger Mann mit dunklen, welligen Strähnen winkte auf dem Display. Er sah müde aus, doch sein offenes Lächeln drängte kurz den Stress aus Leos Herz.

»Oh, äh ... hi?« Leo sah hinüber zu Elise, die ihm verschmitzt zuzwinkerte. »Nice to meet you, too.«

»Good luck tonight.« Der Mann zeigte ihm den Daumen, dann schwenkte sein Fokus auf Elise. »Alright Liz, need some sleep, see ya tomorrow. Have a safe flight.«

»Sleep tight«, erwiderte Elise mit einem bildschönen Lächeln und beendete das Gespräch, steckte das Smartphone ihres Bruders in ihre Hosentasche. Dann wandte sie sich Leo zu. Die Lachfältchen um ihre Mundwinkel wurden tiefer, während seine Verwirrung kontinuierlich stieg.

»Wer war das?«, fragte er, registrierte nebensächlich Elises Koffer und ihren blauen Reiserucksack, die abreisefertig gepackt an der Wand standen.

»Hyunsoo. Mein Verlobter«, antwortete sie und kicherte, als Leo endgültig die Gesichtszüge entglitten. »Er wohnt in Seoul. Ist extra wachgeblieben, um dir Glück zu wünschen.«

»Du bist verlobt?« Leo schüttelte verwirrt den Kopf. »Das ... ich hatte keine Ahnung. Warum hast du nichts gesagt?«

»Du hast nicht gefragt.«

Elise zuckte mit den Schultern. Leo fühlte sich wie ein Pizzabote, dem zwei Meter vor der Lieferadresse die Kartons aus der Hand gerutscht waren.

»Wir haben uns in meinem Auslandsjahr kennengelernt. Er ist Biologe, hat vor kurzem promoviert. Vor ein paar Wochen hat er die Zusage für eine Postdoc-Stelle in Berlin zugesagt bekommen. Das heißt, er zieht bald nach Deutschland.«

Sie legte lächelnd die Hand an ihre Wange. Obwohl Leo die Neuigkeiten schockierten, spürte er, wie glücklich sie war. Seine kratzende Nervosität mischte sich mit diesem Gefühl. Allein der Anblick ihres Gepäcks zerrte ihn wieder in die Realität.

»Ist das der Grund ... ich meine, willst du ...?« Er nickte auf ihren Koffer, biss sich auf die Lippen, als ihre Euphorie abflachte. Ihre Lider senkten sich leicht, Sanftheit legte sich um ihre Lippen.

»Ich habe hier auf dich gewartet. Tut mir leid, dass ich es dir nicht früher gesagt habe. Ich dachte, du kommst vielleicht nicht, wenn du es weißt.«

Leo legte die Stirn in Falten. Er wandte den Blick zum Bühnenzugang, wo Jana ihn vor wenigen Minuten vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. »Dann stimmt es? Du willst nicht auftreten?«

Als sie nickte, zog sich etwas in seiner Brust zusammen. Sein Herzschlag wurde stärker, der Druck auf seine Kehle wuchs.

»Ich habe lange darüber nachgedacht«, erklärte Elise, ließ den Blick durch den Raum schweifen. Blieb an der Gruppe um Dawid haften. »Diese Show ist ein unglaubliches Event. Der Gedanke daran sollte mich glücklich machen. Aber das tut er nicht.«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt