[31] Ayre, pt. 1

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Der Straßenverkehr in Moabit klemmte. Auf dem mehrspurigen Bahnhofzubringer staute sich eine Kolonne von PKWs und Transportern, ein Hupkonzert erhob sich im Regierungsviertel. Kasimir blickte aller zehn Sekunden aufs Radiodisplay. Vor drei Minuten hätte er am Treffpunkt auf der unteren Bahnhofsplattform sein sollen; der ICE nach Hamburg stand bestimmt längst am Gleis. Wenn er den Zustieg verpasste, riss Jana ihm den Kopf ab.

Ganz zu schweigen von seinem Manager.

»Bestimmt kleben auf Straße.«

Kasimir wandte sich seinem Fahrer zu. Pavel hielt den Blick auf den Verkehr gerichtet, erwartungslos wie ein Kunstgaleriebesucher, der nichts mit zeitgenössischen Gemälden anfangen konnte. Sein braunes Haar war militärisch kurz geschoren, seine Mimik spiegelte transzendente Seelenruhe wieder, er ließ sich nicht ansatzweise von der Hibbeligkeit seines Beifahrers anstecken. Das wiederum verschlimmerte Kasimirs Nervosität; er fokussierte seine Smartwatch.

»Abfahrt ist sechzehn Uhr drei ... schaffen wir das?«, murmelte er, woraufhin Paulas Freund mit den Schultern zuckte.

»Wenn nicht, Sofia rollt bis Hamburg.« Er strich zärtlich über das Lenkrad seines in die Jahre gekommenen Škodas. »Nicht gut für Klima. Aber du verpasst Konzert nicht, kein Angst.«

Kasimir seufzte, lehnte sich angespannt in den Sitz. Er sorgte sich weniger darum, unpünktlich am Veranstaltungsort einzutreffen; die Liveshow fand erst in zwei Tagen, am Sonntagabend, statt. Vielmehr machte ihm die nahende Konfrontation mit seinen Mitreisenden zu schaffen. Elise, die im Vorentscheid eine ernstzunehmende Konkurrentin darstellte; ihr Bruder, dessen Rolle Kasimir nicht einordnen konnte. Und Leonhard.

Mit dem er in den letzten zwei Wochen kein einziges Wort gewechselt hatte.

»Du bist zu viel aufgeregt.« Pavel griff seinen Coffee-to-go-Becher aus dem Getränkehalter und genehmigte sich einen Schluck, wobei einige Tropfen im Sitzpolster versickerten. »Du hast viel Übung und guten Lied. Auftritt wird gut.«

»Kann schon sein ...«

Kasimir senkte den Blick, massierte seine Finger. Dank Paula und Pavel war er zur Ruhe gekommen, hatte sich im Gästezimmer ihrer Wohnung gänzlich auf die Vorbereitung seiner Performance konzentrieren können. ›Cynosure‹ klang sowohl auf Paulas Eichenholzklavier als auch dem Steinway der Universität herausragend. Allerdings war die Elbphilharmonie ein anderes Kaliber als der Saal, in dem er sich für den Vorentscheid qualifiziert hatte. Ob Kasimir die Atmosphäre für sich nutzen konnte, war abhängig von seinem Nervengerüst. Und das war durch den stillen Konflikt mit seinem Partner nicht besonders stabil.

»Leo hat gut organisiert«, erwiderte Pavel, als hätte er ihm seine Gedanken vom Gesicht abgelesen. »Er unterstützt, auch wenn er hat schlechte Laune.«

Kasimir seufzte abermals. Obwohl sie keinen direkten Kontakt hatten, hatte Leonhard ihm zuverlässig sein Zugticket und die Hotelreservierung weitergeleitet, einen Programmablauf erstellt und ihn in seinen Mailverkehr mit den Pianovision-Organisatoren eingebunden. Es fühlte sich seltsam an, einander zu ignorieren und dennoch unweigerlich verbunden zu sein.

»Wenn du entschuldigst, alles wieder gut.«

»Wofür soll ich mich entschuldigen?« Kasimir starrte mit verschränkten Armen durchs Seitenfenster auf die Straße. »Er hat sich gegen mich gestellt. Wenn sich jemand entschuldigen muss, ist er es.«

»Mhm«, machte Pavel. Es klang gleichermaßen nach Verständnis und Widerspruch. »Manchmal du musst Hand reichen, auch wenn nicht gefällt.«

»Er hätte zurücktreten können, oder nicht? Wenn er wirklich hinter mir stände, hätte er das getan.«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt