[46] Contredanse, pt. 3

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Als sich die Fahrstuhltür öffnete, stolperte Leo über die Ausstiegskante direkt in eine Menschentraube. Mit einem verlegenen Lächeln stahl er sich davon und lehnte sich ein paar Meter den Gang hinunter gegen die Wand, legte die Hand an die Brust. Er war noch wackelig auf den Beinen. Ohne den Weckruf aus der Lobby hätte er zweifellos die Generalprobe verschlafen. Er musste sich unbedingt bei Elias bedanken, dass er die Rezeption damit beauftragt hatte. Und dafür, dass Leo gestern nicht mit leerem Magen in den Tiefschlaf gefallen war. Dass Elias sich während der Gala um Elise und Kasimir gekümmert hatte ... Herrgott, da war so vieles, wofür Leo in seiner Schuld stand. Aber er würde all die Umstände wiedergutmachen. Mit einer wachen, konzentrierten Darbietung an Elises Seite.

Der Fahrstuhl öffnete sich erneut, dieses Mal trat die Gruppe um die saarländische Kandidatin in den Flur, der zum Foyer führte. Wenngleich er die Chance verpasst hatte, sie auf der Gala kennenzulernen, wusste Leo so gut wie alles über sie. Er hatte Kasimirs Konkurrenz bis ins Detail studiert, kannte ihre Stärken und alle Lieder, die vorgetragen wurden. Wahrscheinlich grüßte er sie deshalb einen Tick zu vertraut. Sie hingegen musterte ihn wie einen Außerirdischen, ehe ihr ein halb verschlucktes »Hi« über die Lippen ging. Dann verschwand sie auffallend schnell aus dem Smalltalkradius.

Als wäre ihr der Kontakt mit ihm unangenehm.

🎵🎵🎵

Die Publikumsterrassen im großen Konzertsaal lagen in vollkommener Dunkelheit, die Beleuchtung der Bühneninsel hingegen war blendend hell. Leo schirmte seine Augen ab, während er die Stufen zu den Parkettplätzen hinunterschlich. Als er die Silhouetten von Schultern und Köpfen in der ersten Reihe erkannte, wurde ihm mulmig. Er verlangsamte sein Schritttempo, sein Puls stieg unweigerlich an.

Gleich würde er Kasimir treffen.

Wie ging es ihm? Hatte er die Gala gut überstanden? Würden sie nach dem Zwischenfall gestern endlich wieder miteinander reden, lachen, sich berühren können?

Die bloße Vorstellung sandte Wärme in seine Wangen. Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und brachte die letzten Stufen hinter sich. Sein Herz pochte bis zum Hals, als er im Halbdunkel ein Gesicht nach dem nächsten betrachtete. Der bayerische Kandidat und der westfälische fachsimpelten über den Lichtcheck auf der Bühne, zwei Sitze weiter entdeckte Leo ein sich küssendes Pärchen. Zweifellos die junge Frau, die ihm eben am Fahrstuhl begegnet war, und der Kandidat aus Brandenburg. Offenbar waren er und Kasimir nicht das einzige Paar, das sich in einer Konkurrenzsituation befand. Die beiden kamen sichtbar besser damit zurecht.

Schließlich entdeckte Leo Elias und Dawid. Sie saßen nebeneinander, neigten die Köpfe über den Zeichenblock auf Elias' Schoß. Auf halbem Weg zu ihnen strauchelte Leo über ein Kabel, das von der Zuschauerterrasse zu einem Mikrofon auf der Bühne führte, und fiel auf die Knie. Während er sich peinlich berührt aufrichtete, bemerkte er die mitleidigen Blicke seiner Mitbewerber. Allein Elias' Mimik wirkte ausdruckslos.

»Hey ...« Leo klopfte sich den Staub von den Hosenbeinen, als er ihn und Dawid erreichte, kratzte sich am Hinterkopf. »Mir geht's wieder gut, haha ... tollpatschig wie immer.«

Ihm wurde flau, als keine Erwiderung folgte. Dawid sah ihn an, als wolle er ihm ein Organ spenden.

»Gut zu hören«, erwiderte Elias schließlich, nickte ans Ende der Sitzreihe. »Elise wird sich freuen, dass du fit für den Auftritt bist.«

»Und wie.« Leo zeigte ihm den Daumen, dann sah er zu seiner Duettpartnerin. Elise sprach mit zwei Reportern. Ihr Gesichtsausdruck wirkte angespannt, genau konnte Leo es in der Dunkelheit nicht erkennen. »Soll ich zu ihr gehen?«

»Besser nicht.« Dawid deutete auf die freien Plätze neben sich. »Dein Köpfchen hat eben erst Bekanntschaft mit 'nem Steinway gemacht. Keine unnötige Ressourcenverschwendung an Journalisten.«

»Mir geht's wirklich gut ...« Leo ließ sich achtsam nieder. Hoffentlich füllte sein Ohnmachtsanfall nicht die Presseberichte. »Dank Elias konnte ich gestern Abend schon wieder was essen. Danke nochmal.«

Er beugte sich lächelnd nach vorn. Elises Bruder erwiderte ein elegantes Schmunzeln.

»Nicht dafür.«

»Nein. Wirklich nicht dafür

Dawid tauschte einen scharfen Blick mit Elias. Sie gingen vertrauter miteinander um als gestern, wenngleich Dawid gereizt wirkte. Normalerweise kokettierte er vor einer Show; besonders wenn er ein williges Opfer fand.

Richtig. Wo war Kasimir?

Leo konnte den schwarzen Schopf seines Freundes nirgends entdecken. Sein wandernder Blick blieb nicht unbemerkt.

»Er ist auf unserem Zimmer«, sagte Elias, woraufhin Leo zunächst ihn musterte, dann seine Armbanduhr.

»Okay ... weiß er, dass gleich die Generalprobe beginnt?«

Elias nickte. »Er ist beschäftigt.«

»Was?« Leo suchte verwirrt Dawids Blick, schwenkte zurück zu Elias. »Aber die Teilnahme ist verbindlich, er muss kommen. Außerdem war er gestern schon nicht zur freien Probe ...« Er zögerte, sah nervös hinauf zum Saaleingang. »Ist irgendwas mit ihm? Geht's ihm nicht gut?«

»Oh, doch. Vielleicht der ein oder andere Drink zu viel.«

Elias beließ es dabei, widmete sich wieder seiner Zeichnung. Leo sah beunruhigt zu Dawid, doch der schien sich krampfhaft auf seine Lederschuhe zu fokussieren. Es war ein seltsames Schweigen. Eines, in dem viel Unausgesprochenes lag.

Leo erhob sich, sein Blick wanderte über die Bühne; der Lichtcheck fand soeben sein Ende. Es blieben sicher nur Minuten bis zur Begrüßung durch den Veranstalter. »Ich seh nach ihm. Könnt ihr Elise sagen ...«

»Nicht nötig«, unterbrach Elias und stand ebenfalls auf, drückte Leo an der Schulter zurück. »Eure Probe beginnt gleich, lass mich das machen. Ich will ihm sowieso noch etwas zurückgeben.«

Elias zog etwas aus seiner Hosentasche, so klein, dass Leo es erst erkannte, als er ihm seine geöffnete Handfläche vor die Augen hielt.

»Ist das Kasis Ring?« Leo betrachtete das Schmuckstück. Kasimir trug den Ring Tag und Nacht, er war ihm noch nie vom Finger gerutscht. »Hat er ihn abgenommen?«

»Vielleicht?«

Leo verengte die Lider, als Elias mit einem seltsamen Schmunzeln an ihm vorbei trat. Eigenartig. Bis eben war er ihm von Herzen dankbar gewesen. Jetzt drückte Argwohn auf sein Gemüt.

»Hey.« Dawids Stimme löste Leo aus seinem Zwiespalt, er drehte sich zu ihm. »Hast du heute schon Insta gecheckt?«

»Oh ... nein, mein Handy hängt am Kabel«, erwiderte Leo, musterte den Platz neben Dawid, auf dem Elias gesessen hatte. »Sag mal, wie meinte er das eben? Hat Kasi wirklich so viel getrunken? Hat er deshalb den Ring ...«

Dawids Seufzen unterbrach ihn. Er deutete auf den Platz neben sich. »Rutsch rüber.«

Leo schloss nur zögerlich einen Sitz auf. Ihm fiel auf, dass Elise in seine Richtung sah, sich jedoch sofort abwandte, als sich ihre Blicke trafen.

»Was ist hier los?«

Dawid schnippte eine Stofffluse über sein Hosenbein und verzog die Lippen, als sie schließlich über sein Knie sprang. »Ich wollte nicht derjenige sein, der es dir sagt. Aber besser ich als Social Media.« Er seufzte abermals. In seinen Augen lag eine Niedergeschlagenheit, die Leos Atmung lähmte. »Es gibt da etwas, das du wissen solltest.«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt