[51] Elegie, pt. 1

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Kasimir spürte ein Ruckeln an der Schulter, hörte eine fremde Stimme. Als er blinzelnd die Lider öffnete, blendeten ihn Sonnenstrahlen, die durchs Fenster auf sein Gesicht fielen. Seufzend schirmte er seine Augen mit dem Handrücken ab, erkannte schemenhaft eine Person, die zu seiner Rechten stand, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Zürich Hauptbahnhof, wir sind angekommen. Steigen Sie bitte aus. Ich will den Bus zuschließen.«

Kasimir tastete orientierungslos nach seiner Brille, fuhr mit den Fingerspitzen über das samtene Polster des Nebensitzes. Die Erinnerung kroch langsam, aber sicher in sein Gedächtnis zurück.

Der Nachtbus. Sein Ticket aus der Hölle.

»En... Entschuldigung ...«

Er stemmte sich auf die Beine, griff zweimal neben seine Tasche, ehe er sich am ungeduldigen Busfahrer vorbeischob und die Stufen zum Bürgersteig herunter trat. Sein Körper kämpfte mit dem unsanften Erwachen, offenbar hatte er die gesamte Fahrt von Hamburg bis zur Ankunft durchgeschlafen.

Nachdem sich sein Gleichgewichtsgefühl eingependelt hatte, tappte er ein paar Schritte aufs Bahnhofsgebäude zu. Auf der Straße wimmelte es von Menschen, die Sonne stand weit über den Dächern Zürichs. Als eine Gruppe Studenten mit belegten Baguettes an ihm vorbeilief, stellte er fest, dass er hungrig war. Und aufs Klo musste. Und einen Kaffee brauchte.

Sein Blick glitt zum Eingang des Hauptbahnhofs. Vielleicht kam er an etwas Essbares, bevor sein Gedächtnis aufklarte. Bevor der Himmel, der sich wolkenlos blau über seinem Kopf wölbte, krachend auf ihn nieder brach.

🎵🎵🎵

Beim Anblick der Take-Away-Auslage des Bahnhofskiosks lief Kasimir das Wasser im Mund zusammen. Er war nicht sicher, wann er zuletzt etwas gegessen hatte. In Dawids Minibar hatte sich zumindest nichts befunden, als er sich stundenlang in dessen Zimmer verbarrikadiert hatte.

Der bloße Gedanke daran drückte auf Kasimirs Kehle. Er bückte sich, um in seiner Reisetasche nach seinem Portemonnaie zu kramen. Dabei ertastete er sein Smartphone, zog es vorsichtig zwischen seinen Klamotten hervor. Das schwarze Display reflektierte die Ladenbeleuchtung. Kasimirs Herz schlug schneller, je länger er es betrachtete; sein Daumen ruhte sekundenlang auf dem Entsperren-Knopf. Er hatte Angst, seine Mitteilungen abzurufen. Höllische Angst.

»Junger Mann, haben Sie die Uhrzeit?«

Kasimir blickte auf. Eine ältere Dame stand neben ihm, deutete auf sein Handy.

»Oh, ähm ...« Kasimir presste den Seitenknopf seines Smartphones. Das Display blieb schwarz, auch nach zweimaligem Drücken. »Nein, ich ... habe ich nicht ...«

Die Dame zog die Augenbrauen zusammen, bedankte sich dennoch höflich und wandte sich etwas abseits an den Nächsten. Kasimir sah ihr beklommen nach, dann fokussierte er wieder sein Smartphone.

Es ist entladen. Niemand erreicht dich. Niemand verurteilt dich.

Er atmete durch, steckte es in die Hosentasche und zog sein Portemonnaie hervor. Dann erhob er sich und strich sorgsam die Kniepartien seiner Anzughose glatt, ehe er sich in die Warteschlange vor der Kasse einreihte. Sein Geist brauchte Koffein, bevor er entscheiden konnte, wie es weiterging. Er hatte über Nacht 800 Kilometer zwischen sich und sein persönliches Armageddon gebracht. Die zehn Minuten konnte der Nervenzusammenbruch auch noch warten.

»Hey, was darf's sein?«

Die Begrüßung der jungen Kassiererin zog Kasimir aus seinen Gedanken. Er sah ihr ins Gesicht, verlor sich kurz in ihren himmelblauen Augen. Ganz ähnlich wie ...

»Irgendein Sandwich«, murmelte er, wich ihrem Blick aus. Ignorierte den scharfen Stich in seiner Brust. »Und irgendein Kaffee. Groß. To go.«

»Okay ...?«, erwiderte sie mit einem Kichern. »Noch irgendwas

Kasimir schüttelte den Kopf, woraufhin sie sich schmunzelnd der rot lackierten Kaffeemühle zuwandte. Ihre Bewegungen waren leichtfüßig, selbst ihre blonden Locken wippten mit derselben Verspieltheit wie Elises.

Denk nicht daran. Lenk dich ab.

Kasimir blickte zur Zeitschriftenauslage. Bunte Galafotos der internationalen C-Prominenz beruhigten seinen Herzschlag, zerstreuten die Dunkelheit, die sich langsam durch sein Inneres fraß. Zumindest so lange, bis er an der Titelseite eines deutschen Tagblatts hängen blieb. Das Coverbild zeigte einen jungen Mann mit rotem Sakko und eine strahlende Frau, die mit erhobenen Händen vor einem Konzertflügel jubelten. Sie hielt seine rechte Hand fest umschlossen. Und er ihre linke.

»Das macht 12,97, wenn nicht noch irgendwas dazu kommt.«

Kasimir wandte sich der Kasse zu, fand ein belegtes Brot und einen dampfenden Becher Cappuccino vor sich. Die junge Frau lächelte. Genauso fröhlich wie die Pianistin auf dem Titelblatt.

Etwas in seiner Brust riss. Etwas Wichtiges, das seine Emotionen drosselte.

»Doch ...«, wisperte er, spürte, wie seine Stimme an Kraft verlor. Wie ihm die Luft wegblieb. »Noch eine Schachtel Zigaretten ... irgendwelche.«

🎵🎵🎵

Die Züge fuhren langsam in den Bahnhof ein; das Schleifen der Scheibenbremsen mischte sich mit Vogelgezwitscher. Kasimir saß auf einer Bank am Bahnsteig und beobachtete teilnahmslos, wie zwei Tauben eifrig die heruntergefallenen Krümel seines Sandwichs vom Boden pickten. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und drehte die versiegelte Zigarettenschachtel in seinen Händen. Erst nach Verlassen des Geschäfts war ihm eingefallen, dass er kein Feuerzeug bei sich trug. Nun fehlte ihm die Courage, zurückzugehen. Noch einmal das Titelblatt der Zeitschrift anzusehen, die Überschrift zu lesen. Den Schmerz durchzustehen.

Er seufzte, ließ den Kopf auf seine Brust sinken. Was tat er hier? Hockte auf einer Bahnhofsbank und war kurz davor, mit seiner Nikotinabstinenz zu brechen, während jenseits der Landesgrenzen sein Leben in Scherben lag. Wahrscheinlich verpasste er in diesem Moment Anrufe, besorgte Nachrichten und wütende Kommentare auf seinen Social Media Accounts. Es war nur eine Frage der Zeit, bis all das mit geballter Wucht auf ihn niederprasselte. Blieb nur zu hoffen, dass Leonhard seine Mitteilungen stummgeschaltet hatte. Dann wurde sein Erfolg zumindest nicht von Kasimirs Untergang überschattet.

»Brauchst du Feuer?«

Kasimir sah auf. Ein Mann im Poloshirt, etwa in seinem Alter, hielt ihm ein Feuerzeug entgegen. Wie erbärmlich musste er aussehen, dass sich bereits der zweite Fremde an diesem Morgen zu ihm herunterbeugte?

»Nein ...«, murmelte er, betrachtete die Schachtel einen Moment. Dann reichte er sie dem Mann.

»Willst du die loswerden?« Sein Gegenüber zögerte, nahm die Zigaretten schließlich entgegen und kramte in seiner Hosentasche. »Wie viel willst du?«

Kasimir hob kopfschüttelnd die Hand, senkte den Blick auf seine Füße. Er hatte keine Lust, zu rauchen, zu reden, zu existieren. Am liebsten sähe er den ganzen Tag den Zügen beim Abfahren zu. Ihre endlose Reise lenkte ihn davon ab, dass nichts in seinem Leben mehr an Ort und Stelle war. Dass er auf ganzer Linie versagt hatte, all seinen Bekannten Kummer bereitete. Dass er den Menschen, den er liebte, verloren hatte.

Vielleicht für immer.

»Warte ...« Kasimir erhob sich, als der Mann sich dankend von ihm verabschiedete. Er schluckte den Kloß, der seine Kehle blockierte, herunter; unterdrückte die Hitze, die ihm in die Augen stieg. »Kann ich dein Handy benutzen?«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt