[26] Cynosure, pt. 1

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Leo aktualisierte sein Postfach alle halbe Minute. Die ausgegrauten Einträge verschwanden und erschienen, ohne dass eine neue Mail hinzukam. Je weiter der Abend voranschritt, desto unwahrscheinlicher wurde es, dass ihn noch eine Anfrage erreichte.

Dann musste er nach Hause gehen.

Er seufzte und lehnte die Stirn gegen die Tischplatte. Noch vor einer Woche hätte er niemals gedacht, dass ihm einmal vor dem Feierabend grauen würde. Er hatte sich hinter Kasimirs Versprechen verkrochen, seine Bedenken im Schlaf verdrängt, fiebrig auf den Moment gehofft, an dem sein Freund ihm endlich seine Komposition vorspielte. Doch dieser war nicht eingetreten - und heute verstrich die Frist.

Es klopfte an der Tür. Leo gab ein Brummen von sich und hob nicht einmal den Kopf, als Jana sein Büro betrat.

»Wenn in deinem Köpfchen zu viel Luft ist, solltest du sie vielleicht herauslassen«, sagte sie und trat vors Fenster, um es anzukippen. »Hast du in dieser italienischen Schickimickibude am Westend angerufen?«

»Jepp.«

»Und die Absprachen zu Madeleines Plattenvertrag bei der Deutschen Grammophon?«

»Heute Morgen erledigt.«

»Warum bist du dann noch hier?«

Jana postierte sich erwartungsvoll hinter seinem Schreibtischstuhl, Leo hörte das ungeduldige Tippen ihrer Schuhspitze auf dem Parkett. Er raffte sich auf und wandte sich mit müdem Blick zu ihr um. Mehr brauchte es nicht, um ihre verhärtete Miene aufzuweichen.

»Hat er dir immer noch nichts geschickt?«, fragte sie deutlich gesetzter und ließ sich ihm gegenüber am Schreibtisch nieder. Als er den Kopf schüttelte, stützte sie grüblerisch das Kinn auf die Handballen. »Im Spamordner geguckt?«

»Er hat mir nichts geschickt, Jana«, seufzte Leo, pustete eine störrische Strähne aus seiner Stirn. »Er wird auch nichts mehr schicken.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Keine Ahnung.«

Leo vergrub sein Gesicht in den Händen. Wenn er auf sein Bauchgefühl gehört und Kasimir von seiner Teilnahme freigestellt hätte, könnte er in diesem Moment gemeinsam mit ihm auf der Couch liegen, eine Tüte Chips plündern und eine schlechte Endzeitschnulze anschauen. Stattdessen erwartete ihn vermutlich ein reales Drama, sobald er seinen wichtigsten Klienten vor vollendete Tatsachen stellte. Hinzu kam der Imageverlust, den sowohl Kasimir als auch die Agentur durch eine so kurzfristige Absage erlitten. Wie er es auch drehte, er hatte als Musikmanager auf ganzer Linie versagt.

»Du kannst nichts dafür.« Jana legte ihm tröstlich die Hand auf den Arm. Er sah sie mutlos durch die Lücken zwischen seinen Fingern an.

»Ich hätte von Anfang an die Hände von der Pianovision lassen sollen. Du hast gesagt, dass es schwierig wird ... dass unsere Beziehung darunter leidet.«

»Ist das denn eingetreten?«

Leo nickte. Er musste ihr nicht erläutern, wie sehr sich Kasimir in den vergangenen Wochen zurückgezogen hatte. Seit Beginn seines Ultimatums verschanzte er sich vor dem Klavier und zog sein provisorisches Nachtlager weiterhin dem Bett vor. Bislang hatte Leo geglaubt, den Verzicht auf körperliche Nähe gut wegzustecken. Inzwischen fühlte er sich jedoch wie eine Biene, die in Dauerschleife um eine geschlossene Blüte kreiste, und der Duft des Nektars machte ihn allmählich wahnsinnig.

»Was geschehen ist, ist geschehen«, meinte Jana und zog die Schultern hoch. »Wir werden Aufbauarbeit leisten müssen, aber das ist nur ein kleiner Rückschlag für seine Karriere. Fakt ist, dass du das Kapitel mit ihm zusammen abschließen musst. Du kannst dich nicht ewig hier verstecken.«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt