[4] Matinée, pt. 1

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Das Trommeln des Regens löste Kasimir aus seinen Träumen. Die Tristesse jenseits der Fensterscheiben hatte die Nacht verwaschen, doch in seinem Inneren glühte sie in düsterbunten Farben nach.

Er drehte sich auf die Schulter und betrachtete das Gesicht des Menschen, der schlummernd neben ihm lag. Leonhards Wimpern senkten sich ruhig über seine Lider, seine Lippen waren leicht geöffnet, sodass Kasimir seine Atemzüge hören konnte. Als er ihm mit dem Fingerrücken über die Wange strich, veränderte sich ihr Rhythmus und er schmiegte sich etwas tiefer ins Kopfkissen. Kasimir schmunzelte, richtete sich vorsichtig auf. Er hatte kein Zeitgefühl, doch die Helligkeit ließ ihn ahnen, dass sich der Tag schon länger auf den Straßen der Hauptstadt vergnügte. Hier, in diesem Refugium aus Gefühlen und Wärme, bekam er nichts davon mit.

Als er sich mit den Händen über die Augen rieb, spürte er einen kühlen Widerstand an der Schläfe und betrachtete seinen Ringfinger. Im Überschwang der Gefühle hatte er vergangene Nacht vergessen, Leonhards Geschenk abzulegen, das Schmuckstück lag geschmeidig auf seiner Haut. Er fuhr mit der Fingerspitze über die Gravur, erhob sich und schlüpfte geräuschlos in seine Jogginghosen. Er wollte Leonhard nicht versehentlich wecken. An seinen freien Tagen sollte er sich regenerieren, um sein fröhliches Gemüt zu behalten. Und der Junge zu bleiben, in den er sich vor so langer Zeit verliebt hatte.

🎵🎵🎵

Als er das Wohnzimmer betrat, hörte Kasimir aufgeregtes Rascheln im Kaninchenstall. Leonie und Fiver duellierten sich um die letzten Körner am Maiskräcker und ließen sich nicht von seiner Anwesenheit stören. Erst, als er seine Hand durch die Käfigtür schob, ergab Fiver sich dem aussichtslosen Kampf und hoppelte unter seine Fingerspitzen. Sein Fell war flauschig und weich, eine Wohltat für Kasimirs überbeanspruchten Tastsinn.

»Hast du dir wieder alles wegfressen lassen?«, flüsterte er und massierte Fivers Ohren, ehe er aufstand, um die Raufe mit frischem Heu aufzufüllen. Auf dem Weg zum Futtersack fiel ihm sein Smartphone ins Auge, das aus der Tasche seiner Anzughose lugte. Angesichts der Menge an Benachrichtigungsicons, die sich gegenseitig aus dem Sperrbildschirm drängten, hätte er am Vortag besser den ein oder anderen Anruf angenommen.

›Lieber Kasimir, wir wünschen dir alles Gute zum 26. Geburtstag! Herzlichen Glückwunsch auch zur bestandenen Bachelorprüfung! Lass uns bald wieder gemeinsam kochen. Deine Paula und Pavel‹

›Happy Birthday, mein hübscher Rammler! Hab dir 'nen Link mit interessanten Stellungen angehängt, die du und dein Häschen probieren müsst. Genau das Richtige für wilde Karnickel ... Dawiiiiiid xoxo‹

5 verpasste Anrufe:

›Jana Biel‹ (1)

›Smoothiehexe‹ (4)

›Kaaaaaasi, nimm doch mal ab. Hildi will Onkelchen seit Stunden was vorspielen. Wehe, du lachst, sie hat sich Mühe gegeben!!!‹

An Cecilies Nachricht war ein Clip angehängt, in dem ihre gehörlose Tochter die Gebärden für ›Alles Gute zum Geburtstag‹ in die Kamera zeigte. Kasimir wurde warm ums Herz. Seit er regelmäßig zum Gebärdensprachkurs ging, fühlte er sich seiner kleinen Nichte näher.

Er scrollte weiter durch seine Benachrichtigungen. Die meisten stammten von seinem YouTube-Kanal, hin und wieder ploppte ein Glückwunsch auf. Selbst sein Exfreund Erik hatte an seinen Geburtstag gedacht. Und jemand, dessen Zuwendung Kasimir wie auf Knopfdruck nervös machte.

Messenger: Alain Rochat hat eine Audiodatei gesendet.

Kasimir ließ sich aufs Sofapolster sinken und betrachtete das Display. Eine Nachricht seines Vaters war nichts, das ihn verunsichern sollte; sie kannten sich seit über einem Jahr. Dennoch brauchte er fast eine Minute, um den Abspielbutton zu aktivieren.

Es handelte sich um eine virtuose Version von ›Happy Birthday‹, Alain saß zweifellos selbst am Klavier. Sein Stil war anders als Kasimirs; sanft und doch so wagemutig, dass er sich schnell in darin verlor. Kasimir spürte, dass Alain seine Seele in jeden Anschlag legte - weil er ihn als festen Bestandteil seiner Familie betrachtete. Vielleicht war das der Grund, warum ihn diese Aufnahme so aufwühlte. Nach einem Vierteljahrhundert zermürbender Schuldgefühle war er plötzlich jemandes Sohn.

»Hörst du heimlich Geburtstagslieder?«

Kasimir sah auf. Direkt in das muntere Gesicht seines Freundes, der in Boxershorts und einem bunten Cartoon-Shirt im Rahmen lehnte. Sein Herzschlag beruhigte sich, er senkte verlegen den Blick.

»Von Alain?« Leonhard trat vor die Couch, gab ihm einen ausgedehnten Morgenkuss. Als die Aufnahme endete, lächelte er. »Schöne Interpretation. Hat er bestimmt extra für dich arrangiert.«

»Möglich ...« Kasimir griff nach seiner Brille auf dem Couchtisch. Kaum zu glauben, dass sein Vater sich solche Mühe für ihn machte. Er meldete sich viel zu selten bei Alain und hatte ihn seit ihrem Kennenlernen noch kein einziges Mal besucht.

Leonhard sah ihm seine zwiegespaltenen Gefühle an. Er drückte die Hände gegen seine Schultern, sodass Kasimir sich tiefer ins Polster lehnte und seine Zuneigung bald auf den Lippen wahrnahm. Ihm war, als betäubten Leonhards Berührungen seine Bedenken. Er konnte sich fallen lassen in seiner Nähe.

»Du grübelst schon wieder«, flüsterte Leonhard ihm ins Ohr. Kasimir schüttelte leicht den Kopf.

»Nein, ich ... weiß nur nicht, wie ich reagieren soll. Wir haben kaum Kontakt.«

»Das ließe sich ändern.« Leonhard rutschte auf den Platz neben ihm, lehnte den Kopf an seine Schulter. »Wir sollten uns dieses Jahr ein, zwei Wochen freinehmen und in die Schweiz fahren. Dann könnt ihr ein bisschen Zeit miteinander verbringen. Er ist echt stolz auf dich.«

Leonhards Worte drückten auf Kasimirs Gewissen. Er wusste, dass Alain ihn schätzte, als Pianist und als Mensch. Doch er schaffte es noch nicht, seine Scheu ihm gegenüber abzulegen. Nicht, nachdem er sein Leben lang ein Monster für ihn gewesen war.

»Vielleicht bekommt er heute einen Grund, noch stolzer zu sein«, sagte Leonhard und massierte sanft seine Finger. Auf Kasimirs unverständigen Blick schmunzelte er. »Ich habe eine Überraschung für dich. Eine, die dich aus den Socken hauen wird.«

»Noch eine?« Kasimir musterte den Ring an seinem Finger. »Mehr Zuwendung vertrag ich nicht.«

»Und wie du die verträgst.« Leonhard zeichnete mit der Fingerspitze die Tätowierung auf Kasimirs Unterarm nach. »Du bist der tollste Mensch, den ich kenne, Kasi. Du verdienst es, dass alle Welt dir Aufmerksamkeit schenkt.«

Kasimir hatte das Gefühl, dass die Luft in seinen Lungen dünner wurde. Manchmal fragte er sich, womit er diesen Jungen an seiner Seite verdiente. Er lehnte sich zur Seite und küsste Leonhard auf den Mund. So weich und intensiv, dass er sich selbst davon berauscht fühlte. Er legte seine Hand an seinen Hinterkopf, spürte sein weiches Haar unter den Fingerspitzen, die Wärme seiner Haut. Und als Leonhard die Augen schloss, wusste er, dass er diesen Moment genauso genoss.

»War die Nacht zu kurz für dich?« Leonhard zwickte ihm mit den Zähnen in die Unterlippe, woraufhin Kasimir widerwillig von ihm abließ. »Tut mir leid, aber meine Überraschung kann nicht warten. Es sei denn, du möchtest deine Karriere an den Nagel hängen und stattdessen Zungenakrobat werden. Zugegeben, Talent hast du. Ich würde dich engagieren.«

Kasimir schmunzelte. Was auch immer Leonhard sagte, seine Worte gewannen stets gegen die Eintönigkeit seiner Gedanken. Am liebsten würde er seinen überlaufenden Gefühlen für ihn mehr Zeit widmen. Aber dafür musste er sich wohl auf diese Überraschung einlassen.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt