[52] Elegie, pt. 2

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Die malerischen Gipfel der Schweizer Alpen zogen wie Wellen eines steinernen Ozeans vorbei. Kasimir saß auf dem Rücksitz des Taxis, das ihn seit Stunden quer durchs Land kutschierte, lehnte die Stirn an die kühle Scheibe und beobachtete die Landschaft. Im Radio dudelte elsässische Volksmusik, hin und wieder sang sein Fahrer eine Passage mit. Kasimir war ihm dankbar. So blieb ihm ein Gespräch erspart, das sein Selbstwertgefühl noch tiefer in den Abgrund riss.

Als sie das Ortseingangsschild von Moléson Village passierten, zog Kasimir seine Bankkarte aus dem Portemonnaie. Er hatte seit Monaten keine Engagements angenommen, sein Konto war leergefegt. Hoffentlich reichte der Kreditrahmen, um die Fahrt zu bezahlen.

»Wie viel macht das?«, fragte er nach vorn, als der Fahrer vor einem Einfamilienhaus hielt.

»Dein erstes Mal Uber, was? Der Auftraggeber hat die Fahrt bezahlt«, erklärte der Fahrer, überprüfte die Transaktion sicherheitshalber auf seinem Smartphone, zeigte Kasimir den Bildschirm. »Hier, Alain Rochat. Alles beglichen.«

»Oh ... okay.«

Kasimirs Gewissen sank in dunkle Untiefen. Er stieg aus, hob mit einem leisen »Danke« seine Tasche aus dem Kofferraum und sah dem Fahrzeug nach, bis es in eine Nebenstraße abbog. Dann wandte er sich dem Grundstück zu, vor dem er abgesetzt worden war. Seine Finger krampften sich um den Riemen seiner Reisetasche, während er den sommerlichen Vorgarten und die mit Blumen dekorierte Veranda betrachtete. Von allen Orten, an denen er sich verkriechen konnte, trieb es ihn ausgerechnet an diesen. Sein Vater, den er nie kontaktierte, hatte ihm ohne zu zögern Obdach zugesagt, ihm eine hunderte Franken teure Taxifahrt bezahlt. Wie sollte er all das wiedergutmachen?

Kasimir atmete tief durch und öffnete das Gartentor, schlurfte bis vor die Haustür und zögerte quälend lange, bis er den Klingelknopf drückte. Sofort drang Hundegebell durch die geschlossene Tür. Kurz darauf hörte er eine Jungenstimme, die das Tier auf Französisch zur Ordnung rief.

Kasimir wischte sich seine schwitzigen Handflächen an der Hose ab. Er hatte gehofft, dass Alains Frau ihm öffnete; Adèle hatte seinen Anruf in der Musikschule entgegengenommen. Stattdessen waren offenbar seine Halbbrüder zu Hause.

Die Tür schwang auf, und Kasimir wich instinktiv einen Schritt zurück. Ein aschblonder Junge mit unzähligen Sommersprossen und einem karierten Basecap auf dem Kopf hielt mit der einen Hand die Klinke, mit der anderen einen braunen Labrador am Lederhalsband fest. Jean, Alains jüngster Sohn. Als der Hund abermals Laut gab, beschwichtigte er ihn mit einem Zischen und sah anschließend lächelnd zu Kasimir auf.

»Sorry, Mirabelle freut sich immer extrem über Leute«, sagte er und zog den Hund ein Stück zurück in den Flur, um Kasimir Platz zu machen. »Dachte, du kommst später. Hätte sie sonst in die Küche gesperrt.«

»Kein Problem ...«, wisperte Kasimir, trat achtsam über die Türschwelle. »Hat, ähm ... hat deine Mutter gesagt, dass ich komme ...?«

»Jepp.« Jean trat die Tür mit einem sanften Kick ins Schloss, dann ließ er Mirabelle frei laufen. Sie stromerte sofort um Kasimirs Beine und beschnüffelte ihn von allen Seiten. »Sie und Papa sind noch auf Arbeit, aber sie hat gesagt, du kannst ins Gästezimmer. Das Bett hab ich bezogen, war aber nur noch die Dino-Bettwäsche da, sorry.«

Kasimir folgte Jean durch den Flur bis vor ein Zimmer, dessen Tür halb offen stand. Als er den Rahmen erreichte, hielt er inne, wandte den Blick zurück. Aus dem Nebenraum drang gedämpft Klaviermusik.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt