[72] Cantabile, pt. 1

75 14 0
                                    

Kasimir zog vorsichtig die Beifahrertür zu und sah hinüber zum Parkhausschalter. Alain entwertete das Ticket, zog die graue Stoffjacke enger um seine Brust und kehrte zurück zum Auto. Er ließ sich lächelnd in den Sitz fallen, rieb die Handflächen aneinander. »Frostiger Morgen, was?«

Kasimir nickte, senkte den Blick auf seine Finger. »Danke, dass du so früh vorbeigekommen bist.«

»Keine Ursache. Ich habe ohnehin kein Frühstück im Hotel gebucht. Denke, ich suche mir ein Café am Montmartre, nachdem ich dich abgesetzt habe.« Er ließ den Wagen an und legte den Gang ein, manövrierte routiniert durch die engen Gassen des Parkhauses. »Es war schön, Leo zu treffen. Bin froh, dass es ihm gut geht. Und dass ihr euch ausgesprochen habt.«

»Ja ... tut mir leid, dass alles so überstürzt kam. Du bist bestimmt kaputt.«

»Nicht der Rede wert.« Alain steckte das Parkticket in den Kartenleser und passierte die Schranke, fuhr vorsichtig die Rampe hinauf bis vor den Ausgang. »Ich habe früher viel waghalsigere Touren gemacht. Deine Mutter hat mich während unserer Beziehung einmal angerufen, weil sie mich vermisst hat. Ich bin direkt ins Auto gestiegen und losgefahren.« Er strich sich lächelnd eine silberschwarze Strähne aus dem Gesicht, während er auf die Hauptstraße abbog. »Ich weiß, wie es sich anfühlt, unbedingt zu jemandem zu wollen. Das macht einen verrückt.«

Kasimir schmunzelte. Er war Alain dankbar, dass er ihn ohne nachzufragen auf direktem Weg nach Paris gefahren hatte. Ohne ihn würde er in diesem Moment an seinen Sorgen um Leonhard vergehen. »Leo will eine Konzertkarte für dich besorgen. Damit du die Show sehen kannst.«

»Dann muss ich nochmal zum Herrenausstatter«, lachte Alain, betrachtete die zahlreichen Modeläden und Schaufenster, an denen sie vorbeifuhren. »Ich brauche sowieso einen neuen Anzug. Meinen alten habe ich zuletzt vor Jahren auf meinem Abschlusskonzert getragen.«

Er schwieg, schien sich eines besonderen Moments zu erinnern. Kasimir konnte sich dem euphorischen Funkeln in seinen Augen nicht entziehen.

»Warum hast du deine Karriere beendet?«, fragte er vorsichtig. Sein Vater warf ihm einen kurzen Blick zu, dann widmete er sich wieder der Straße. Seine Unterlider entspannten sich.

»Ich wollte irgendwann etwas anderes. Das Scheinwerferlicht hat mich begeistert, ich mochte den Applaus, die Aufmerksamkeit. Aber nach Cynthias Tod hat all das an Bedeutung verloren.« Er setzte den Blinker, bog in eine gepflasterte Gasse ab, die von gusseisernen Laternen gesäumt war. »Es ist eine Sache, anderen mit seinem Spiel Freude zu bereiten. Aber wenn man selbst nichts fühlt, ist es eine leere Kunst. Ich wollte mich nicht hohl fühlen bei der einzigen Sache, die mich noch mit ihr verbindet.«

Seine Stimme wurde leiser. Kasimir spürte, dass es ihn nach all den Jahren noch immer berührte, darüber zu sprechen. Er wollte sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlte, nie mehr mit dem Menschen, den man liebte, reden zu können, ihm nahe zu sein. Umso mehr bewunderte er Alain für jeden Schritt, den er nach dieser Tragödie gemacht hatte.

»Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll«, sagte Alain, während sie hinter einem Fahrzeug warteten, das in eine Parklücke einscherte. »Ich wollte eine andere Seite meines Klavierspiels kennenlernen. Eine, die mich nicht jeden Tag an sie erinnerte. Deshalb habe ich angefangen, zu unterrichten.«

Sein Schmunzeln kehrte zurück. Kasimir sah ihm an, dass es echt war.

»Ich habe Klavierlehrer immer belächelt. Für mich waren es mittelmäßige Musiker, die es nicht zum Konzertpianisten gebracht hatten. Sich jeden Tag mit unmotivierten Kindern herumzuschlagen, war eine grauenhafte Vorstellung. Zumindest, bis ich es versucht habe.« Er drehte sich zu ihm, lächelte so offen, dass Kasimir mulmig wurde. »Es macht Spaß, die Fortschritte meiner Klienten zu beobachten. Egal, ob Kinder oder Erwachsene. Sie alle versuchen, scheitern, hadern. Versuchen es wieder, scheitern wieder. Aber irgendwann«, er machte eine kurze Pause, »irgendwann meistern sie diese Passage. Irgendwann sind sie so gut, dass sie sich kaum mehr an ihre Schwierigkeiten erinnern. Aber ich tue es. Und es macht mich unheimlich stolz, sie auf ihrem Weg zu begleiten.«

Kasimirs Herz klopfte stärker. Die Art, wie Alain von seinem Beruf sprach, diese Passion. Sie berührte etwas in ihm.

»Martin hat mir letzte Woche geschrieben, wie gut er dank deiner Hilfe mit dem Üben vorankommt. Das hat mich glücklich gemacht. Er ist ein harter Brocken, weißt du? Du hast zweifellos pädagogisches Talent.« Alain lächelte so warm, dass Kasimir schlucken musste. »Versteh mich nicht falsch, ich will dich nicht beeinflussen. Du musst deinen eigenen Weg finden, und meiner hat mich eben in die Lehre geführt. Aber ich liebe meinen Beruf, ich liebe es, mit meiner Frau zusammenzuarbeiten. Wir sind ein Team, wir unterstützen einander. An Adèles Seite habe ich eine Facette meines Spiels kennengelernt, die ich im Konzertsaal niemals bemerkt hätte. Und es ist das mit Abstand beste Gefühl, das ich in meinem Leben erfahren durfte.«

Er bremste leicht ab, setzte den Blinker nach links in die Einfahrt eines Cafés. Kasimir merkte erst jetzt, dass sie das Ziel bereits erreicht hatten. Er hatte sich vollkommen in Alains Beschreibungen verloren.

»Ich bin mir sicher, du wirst das auch erleben«, sagte er, nachdem er in der Nähe des Eingangs gehalten und die Handbremse angezogen hatte. »Du und Leo, ihr habt dieselben Hoffnungen und schätzt dieselben Werte im Leben. Das ist, was eine Beziehung wertvoll macht.«

»Meinst du ...?«, erwiderte Kasimir zögerlich, löste seinen Gurt. Es fiel ihm schwer, Alains Gutmütigkeit anzunehmen. Dieser legte ihm jedoch bestärkend die Hand auf die Schulter.

»Ich weiß, du machst gerade viel durch, und es kommt mit Gewissheit noch mehr auf dich zu. Aber du bist stark, du schaffst es.« Er hielt kurz inne, dann lehnte er sich zu Kasimir herüber und nahm ihn in den Arm, flüsterte. »Ich bin stolz auf dich, mein Sohn.«

Mein Sohn.

Kasimir blinzelte, schluckte, doch es half nichts. Ihm stiegen Tränen in die Augen. Zwanzig Jahre lang hatte er sich in seinen Schatten verkrochen, hatte geglaubt, dass sein Vater ein Monster war. Und nun sagte ihm ebendieser Mann, dass er wertvoll war. Dass er ihm etwas bedeutete.

»Danke«, wisperte er und schloss die Augen, drückte Alain etwas fester an sich. Spürte einen sanften, befreienden Schmerz in der Kehle. »Danke ... Vater.«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt