Als die Tür hinter Kasimir ins Schloss klackte, ließ er sich dagegen gelehnt in die Hocke sinken. Sein Puls pochte in der Schläfe, sein Atem wog schwer und schmerzte in seiner Brust. Aber zumindest konnte ihn hier, im Klavier-Übungszimmer des Musikinstituts, niemand sehen.
Komm runter. Ganz ruhig. Atmen.
Kasimir versuchte, die Aufregung mit Gedankenmantren zu beschwichtigen. Obwohl er sich der Stresssituation entzogen hatte, schlotterte er am ganzen Körper und brauchte mehrere Versuche, sein Smartphone aus der Hosentasche zu ziehen.
»Dawid ...«, wisperte er, während er den Namen in die Suchmaschine eingab. Sofort ploppten Meldungen zur erfolgreichen Qualifikation seines ehemaligen Konkurrenten auf, begleitet von Video-Ergebnissen mit seinem Auftritt im österreichischen Vorentscheid. Kasimir zögerte, ehe er auf einen der Links klickte.
Die Aufnahme zeigte eine gewaltige Rundbühne mit einem weißen Flügel im Zentrum, der im blauen Scheinwerferlicht glänzte wie eine Eisskulptur. Dawid Eilinger saß im schneeweißen Maßanzug davor, das hellbraune Haar gescheitelt, sein Lächeln makellos. Er strahlte ein solches Selbstbewusstsein aus, dass der Konzertsaal dank seiner Präsenz noch majestätischer wirkte. Seine Hände stoben über die Klaviatur wie ein Brecher, der sich seinen Weg durchs Packeis schuf. Die Töne, die den Saiten entsprangen, klangen jedoch zart wie Eiskristalle im Winterwald; ein Gedicht aus Flocken und Sonnensprenkeln, die auf den Nadeln der Tannen funkelten. Dieses Lied, die gesamte Atmosphäre – es war eine Rhapsodie aus Eis und Schnee. Dawids Mimik war leidenschaftlich, seine Haltung entflammt, und seine Bewegungen glitten geschmeidig wie ein Lavastrom. Das, was er seinem Publikum bot, war heiß und kalt zugleich; ein Vulkanausbruch, der als Schneesturm durchs Publikum fegte.
Frostbrennende Perfektion.
Als die Aufnahme stoppte, hatte das Zittern in Kasimirs Fingern aufgehört. Er starrte auf das Schlussbild, in dem Dawid sich tief verbeugte. Sein Herz klopfte langsamer, seine Gedanken flossen zäher. Eines spürte er jedoch am ganzen Körper. Das war das Niveau, auf welchem sich dieser Wettbewerb ereignete.
Damit musste er konkurrieren.
Kasimir ließ das Smartphone langsam auf den Boden sinken, schloss die Augen und lehnte seinen Hinterkopf gegen die Tür. Die Kreativität dieser Komposition, Dawids technische Raffinesse – damit konnte er nicht mithalten. Keines seiner Stücke entsprach auch nur annähernd den Ansprüchen dieses Meisterwerks, er müsste etwas vollkommen Neues, etwas Besseres komponieren.
Aber wann? Wie?
»Verflucht ...«, wisperte er und rieb sich mit den Händen übers Gesicht. Sosehr er das Klavierspiel liebte, dieses Projekt war zu groß für ihn. Zeit, die Reißleine zu ziehen.
Er nahm sein Handy und wählte den Kontakt seines Freundes. Während das Freizeichen erklang, stemmte er sich in den Stand, trat vor den Steinway und strich mit den Fingerspitzen über den schwarzen Lack. In seiner Zeit an der Uni hatte er auf ihm gelernt, seinem Spiel Tiefe zu schenken, die Kraft seiner Anschläge zu dosieren und den gewünschten Effekt im Herzen seiner Zuhörer zu erzielen. Diese Aspekte gefielen ihm, sie definierten seine Leidenschaft abseits der großen Bühne. Das war alles, was er brauchte.
»Hey, Kasi!«
Kasimirs Atmung setzte einen Zug aus. Leonhards Stimme klang so freudig, als wäre sie mit Glückshormonen beträufelt worden. Er hingegen musste sich räuspern, um überhaupt einen Ton hervorzubringen.
»Hey ...«
»Super, dass du anrufst. Ich hab tolle Neuigkeiten.«
Kasimir spürte, wie das Zittern seiner Finger einsetzte. Sein Atem wurde klamm und seine Kehle trocken.
»Jana und ich hatten eben ein Online-Meeting mit dem Auswahlgremium des Pianovision-Vorentscheids«, fuhr Leonhard fort. »Es haben sich ursprünglich siebzehn Pianisten zum Qualifikationsvorspiel angemeldet, aber gestern ist die Hälfte abgesprungen. Ist das zu fassen?«
Da war sie wieder, die Kälte. Sie drückte von innen gegen Kasimirs Rippen, schlang sich um seine Lungenflügel und bohrte sich in sein Herz.
Nein. Bitte nicht.
»Du hast kaum Konkurrenz, Kasi!«, jubilierte Leonhard durchs Telefon. »Du musst bloß dein Lied spielen und bist so gut wie im Vorentscheid!«
Nein, nein.
Kasimir öffnete den Mund, doch kein Wort verließ seine Lippen. Nein, das war falsch. Das war nicht, was er hören wollte.
»Sie ... haben abgesagt? Warum?«
»Weil gestern die Teilnehmerliste veröffentlicht wurde. Und rate mal, wessen Name ganz oben stand.«
Kasimir schluckte. Leonhards Enthusiasmus drängte sein kümmerliches Häuflein Mut zurück in die dunkelste Ecke seiner Seele.
Nein, lass das nicht so stehen. Sag etwas.
»Mit dem Top-YouTuber Hasitzky will sich niemand messen«, lachte Leonhard, und in Kasimir zog sich alles zusammen. »Ich glaube, dein Management hat saubere Arbeit geleistet. Du darfst das Vorspiel sogar eröffnen.«
Komm schon. Mach den Mund auf!
»Verstehe ...«
Nein!
»Verstehe?«, wiederholte Leonhard etwas enttäuscht, nachdem Kasimir sekundenlang geschwiegen hatte. »Kasi, du wirst in zwei Monaten auf dem Vorentscheid in Hamburg spielen, wenn du das Ding gewinnst. Womöglich trittst du im Pianovision-Finale auf!«
»Gegen Dawid«, erwiderte Kasimir wie fremdgesteuert, seine Emotionen waren in der inneren Kälte erstarrt. Er konnte nicht verarbeiten, was Leonhard ihm sagte; nur das rezitieren, was ihn bereits vor diesem Gespräch nervös gemacht hatte. Und seine Worte zündeten.
»Du weißt davon?« Leonhard klang überrascht. Kasimir drückte das Smartphone in seiner Hand fester zusammen, dann atmete er tief durch. Die Unbedarftheit in der Stimme seines Freundes reizte ihn, doch er durfte sich nicht aufwiegeln lassen. Leonhard war nicht schuld an seiner mentalen Schwäche, und er wollte seinen Missmut nicht an ihm auslassen.
»Paula hat es mir gerade erzählt«, erwiderte er.
»Ah, okay. Eigentlich wollte ich dich damit überraschen, wenn deine Qualifikation feststeht. Aber das hat sich ja im Grunde erledigt, nicht?« Leonhard lachte zurückhaltend, das schlechte Gewissen färbte auf seine Stimme ab. »Wenn du auch den Vorentscheid überstehst, bekommst du endlich dein Duell gegen Dawid. Freust du dich?«
Nein.
Kasimir biss sich auf die Lippen, um seine verschmähten Gefühle nicht nach außen dringen zu lassen; die Wahrheit kratzte in seinem Hals. Er freute sich weder auf die bevorstehende Show, noch auf alles, was danach kam. Aber das konnte er Leonhard, der so auf dieses Ereignis hin fieberte, unmöglich sagen.
Es ging einfach nicht.
»Ich muss noch üben«, murmelte er. »Wenn ich gegen Dawid bestehen will ...«
»Und wie du gegen ihn bestehen wirst«, antwortete Leonhard bestärkend. »Du spielst großartig, Kasi, du wirst diese Show rocken. Ich bin an deiner Seite. Übermorgen, im Vorentscheid und auf der großen Bühne. Wir packen das gemeinsam. Okay?«
»Okay«, wisperte Kasimir und presste das Smartphone dichter an sein Ohr, seine Atmung wurde wieder dünner. Wenngleich der Kritiker in seinem Kopf die Flinte auf den Angsthasen in seinem Herzen richtete, er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Paula, Leonhard, beide glaubten an ihn. Selbst Dawid rechnete offenbar damit, ihm in der Endrunde gegenüberzustehen. Sie wollten ihn auf dieser Bühne sehen, setzten all ihre Hoffnungen in ihn.
Wer wäre er, diese Hoffnungen zu enttäuschen?
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All Eyes On Us [3]
Romance🎼 Abschlussband der Reihe "All Eyes On Me"! 🎼 *abgeschlossen* #leomir 🐰🏳️🌈🩷 [Achtung - SPOILER für Band 1 & 2] . . . Kasimir und Leo haben sich für eine gemeinsame Zukunft entschieden. Als sein Agent setzt Leo alles daran, die Musik seines Fre...