[56] Ecossaise

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Leo öffnete die Tür zum Agenturfoyer. Sofort fiel sein Blick auf die Wanduhr, die wie ein Fallbeil über dem Tresen hing. 11:38 Uhr. Das dürfte sein neuer Rekord im Zuspätkommen sein.

Seufzend passierte er die Personaltür und näherte sich seinem Büro. Er war am Vortag nicht besonders spät nach Hause gekommen und direkt, nachdem er die Kaninchen versorgt hatte, ins Bett gefallen. Trotzdem hatte er morgens nicht aus den Federn gefunden, und die Müdigkeit verklebte bis jetzt seine Denkprozesse. Erst war er in die falsche Bahn gestiegen, dann bei rot über die Straße gelaufen und kurz vor Erreichen der Agentur in einen Hundehaufen getreten. Kaum zu glauben, dass er vor zwei Tagen im Bühnenlicht der Elbphilharmonie ein Millionenpublikum begeistert hatte. Der Alltag zerrte ihn zurück in seinen Trott, doch er war ihm noch nicht gewachsen. Oder nicht mehr.

Als er an Janas Büro vorbeilief, drang ihre Stimme durch die angelehnte Tür. Leo lugte durch den Spalt und sah, wie sie mit dem Handy am Ohr vor dem Fenster stand, eine Hand in die Hüfte gestemmt. Ihr Tonfall klang gesetzt; die Satzfetzen, die ihren Mund verließen, zielten auf Beschwichtigung.

»Ja ... ja, ich verstehe Ihren Ärger, aber ... wie gesagt, ich kann mich nur dafür entschuldigen und Ihnen einen unserer anderen Künstler ... nein. Nein, natürlich nicht ...« Ihr ernüchtertes Seufzen bohrte sich in Leos Gewissen. Er ahnte, worüber sie mit ihrem Klienten debattierte. Über wen. »Ja ... Ihnen auch. Wiederhören.«

Sie löste das Smartphone vom Ohr und ließ es auf den Tisch fallen, legte die Hand an ihre Stirn. Es war unübersehbar, wie sehr sie mit der Situation haderte, in die sie von einem Tag auf den nächsten gestoßen worden war.

Leo klopfte leise an und trat in den Rahmen, als sie sich umwandte. Für einen Wimpernschlag hellte sich ihre Miene auf, dann zeichneten sich dünne Falten auf ihrer Stirn ab. Sie trat ohne Worte auf ihn zu, legte ihm zunächst die Hände auf die Schultern und schloss ihn dann in die Arme. Leo erwiderte ihre Geste, sein Blick ging starr zum Fenster. Draußen bildete sich eine Wolkendecke.

»Ich bin stolz auf dich«, flüsterte Jana, ihr Griff wurde fester. »Euer Auftritt war mitreißend. Du hast es dir verdient.«

»Danke.« Leo löste sich aus der Umarmung und schenkte ihr ein schmales Lächeln. »Fühlt sich seltsam an, in den Alltag zurückzukehren.«

»Von Alltag kann keine Rede sein.« Jana schnaubte, bemühte sich jedoch, ihre Contenance zu wahren. »Als ich heute Morgen ins Büro bin, hatte ich dreiundvierzig Nachrichten auf dem AB, seitdem reißt der Telefonterror nicht ab ...«

Als hätte sie es beschworen, brummte ihr Handy über die Tischplatte. Anscheinend hatte sie den Ton deaktiviert, um ihre Nerven zu schonen.

Leo betrachtete missmutig das Telefon. »Alles Stornierungen?«

»Weitestgehend. Engagements, die schon seit Wochen stehen. Ich will nicht wissen, wie viel Geld ich in den letzten zwei Stunden eingebüßt habe.«

»Tut mir leid«, murmelte Leo, legte instinktiv die Hand an das Diensthandy in seiner Hosentasche. »Du kannst auf mich umleiten. Ich bleibe heute länger.«

»Red' keinen Unsinn. Meinetwegen hättest du gar nicht auftauchen brauchen. Diese ganze Sache ist schwer genug für dich.«

»Ach was. Ich fahre nach Paris, oder?«

Er lächelte, schloss dabei fast die Augen. Es war leichter, wenn er ihr nicht ins Gesicht sehen musste. So nahm er den Pechtropfen, der über seine goldene Maske lief, kaum wahr.

Jana verzog die Lippen, widersprach ihm aber nicht. Sie wusste, dass Wehklagen die Situation nicht verbesserte, und er war dankbar für ihr Feingefühl.

»Wie dem auch sei, wir haben eine Menge Arbeit vor uns.« Sie drehte sich zu ihrem Tisch und griff nach einem Stapel Dokumente, blätterte halbherzig durch die Seiten. »Weißt du, wo er ist?«

»In der Schweiz. Bei seinem Vater.«

»Ich dachte, er sei Waise?«

»Halbwaise. Sie hatten bis letztes Jahr keinen Kontakt.«

»Verstehe. Dann haben sie jetzt Zeit, einander kennenzulernen.« Sie drückte Leo den Dokumentenhaufen in die Hand, trat hinter ihren Schreibtisch und ließ sich seufzend auf ihrem Bürostuhl nieder. »Kannst du das einscannen? Ich kümmere mich um den Rest.«

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Monitor, klickte ein paar Mal mit der Maus. Leo betrachtete das Formular, das dem Papierstapel auflag; die unterzeichnete Buchungsbestätigung einer Violinistin, die Jana vertrat. Er überflog die Folgeseiten, auch sie betrafen Künstler der Agentur. Auf keinem davon stand Kasimirs Name.

»Bist du sicher, dass du nicht mehr Hilfe brauchst?«, hakte er nach. Jana schüttelte den Kopf, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen. Leo schloss die Finger fester um die Papierkanten. »Ich meine ... wenn wir Kasimirs Image retten wollen, müssen wir jetzt handeln. Es ist viel schlechte Presse im Umlauf, vor allem auf Social Media.«

»Ich kümmere mich darum. Mach du dir Gedanken um die Organisation eures Paris-Aufenthalts.«

»Aber ich bin sein Manager ...«

»Leonhard.« Sie löste den Blick vom Bildschirm, sah ihm in die Augen. »Dein Partner hat in aller Öffentlichkeit deine Duettpartnerin gedemütigt und seinen Auftritt boykottiert. Er hat alles zerstört, wofür du im letzten Jahr gearbeitet hast, und er hat dich allem Anschein nach betrogen.« Sie schwieg, atmete durch. Ihr Blick wurde weicher, doch ihre Worte nicht. »Ich weiß, dass du dich verantwortlich fühlst. Aber du bist nicht in der Verfassung, für ihn einzustehen.«

Ihr Statement schnürte Leo die Kehle zu. Er stand da, mit seinem Papierstapel in der Hand, und brachte keinen Ton über die Lippen. Wie in dem Moment, als Dawid ihm vom Verlauf des Galaabends erzählt hatte.

»Es sind nur drei Wochen bis zur Show.« Jana widmete sich wieder ihrem Computer. »Ich will, dass du bis dahin halbtags an deiner Performance arbeitest. Zusammen mit Elise. Den Rest der Zeit kannst du im Homeoffice verbringen.«

»Was? Aber ich kann nicht so lange freinehmen.«

»Tust du nicht, ich bezahle dich Vollzeit. Im Gegenzug konzentrierst du dich auf die Vorbereitung eures Auftritts. Wenn ihr in Paris erfolgreich seid, kommt das der Agentur zugute. Vielleicht kannst du damit den Imageschaden, den Kasimir uns zugefügt hat, ausgleichen.« Sie hielt inne, ihre Botschaft schien ihr selbst schwerzufallen. »Es ist der effizienteste Weg, ihm zu helfen.«

»Das hilft seiner Karriere überhaupt nicht«, entgegnete Leo; der aufwallende Frust verdrängte seinen Kummer. »Wenn ich im Mittelpunkt stehe, wird man ihn vergessen. Seine Auftritte, seine Musik. Alles.«

»Vielleicht ist das das Beste.«

Ihre Antwort verschlug Leo die Sprache. Sein Herz klopfte, Aufregung durchströmte seine Venen. Er konnte nicht glauben, was er hörte.

»Kasimir ist erwachsen, Leonhard. Er entscheidet, was er tut, und wenn es etwas Dummes ist, muss er dafür gerade stehen. Nicht du.« Sie betrachtete ihre Fingernägel. Leo sah ihr an, dass es sie schmerzte, so hart mit ihrem einstigen Star ins Gericht zu ziehen. »Vielleicht war der Weg ins Showgeschäft von Anfang an nicht sein Weg. Vielleicht ist er einem Licht gefolgt, das nicht von ihm ausgeht. Derjenige, der die Musikwelt überstrahlt, bist du.«

Leo öffnete die Lippen, erstarrte jedoch im Versuch, zu widersprechen. Er hatte sich nicht zur Pianovision angemeldet, um jemanden zu überstrahlen. Am allerwenigsten den Menschen, der nur seinetwegen daran teilgenommen hatte.

»Ich weiß, du hörst das nicht gern. Aber es ist meine ehrliche Einschätzung.« Sie musterte ihn mit einer Schwere, die nach und nach sein Herz zerdrückte. »Du bist der einzige Lichtblick, den diese Agentur gerade hat. Also bitte akzeptiere, dass ich Hoffnungen in dich setze. Dieser Auftritt ist wichtiger als alles, was du bisher für mich getan hast. Du bist wichtiger für die Agentur als ...«

Ihre Lider senkten sich, ihr Blickkontakt fiel ab. Leo spürte, dass sie noch etwas anfügen wollte, doch sie brachte es nicht über sich. Und er wusste, warum. Er hörte es durch das schmerzhafte Pochen seines Herzens hindurch.

Du bist wichtiger als Kasimir Hasenick.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt