[47] Contredanse, pt. 4

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Im Hamburger Hafen fuhr ein Frachter ein, schnitt elegant durch die Nebelwand über der Elbe. Wie ein Geisterschiff, das in die Lebewelt steuerte, beladen mit Containern voll Chaos. Jede Minute wurde es dunkler, dennoch landete der Kapitän sicher an den Docks an.

Kasimir würde schon beim Versuch kentern.

Er lehnte die Stirn an die kühle Scheibe des Panoramafensters, schloss die Augen. Vor Einbruch der Dunkelheit hatte er sich umgezogen, alle Lichter in Dawids Zimmer gelöscht. Sein Smartphone ruhte stummgeschaltet in seiner Reisetasche; allein die Dämmerung versicherte ihm, dass die letzte Stunde vor Beginn des deutschen Pianovision-Vorentscheids angebrochen war.

Er legte die Hand ans Glas, betrachtete seinen Ringfinger. Über Stunden hatte er jeden Winkel des Hotels durchkämmt, war auf Knien über die Plaza gekrochen, hatte alle Foyers, alle Toiletten durchsucht. Vergeblich. Den großen Konzertsaal hatte er auslassen müssen, lediglich vor der Saaltür den Klängen der Generalprobe gelauscht. Die Gewissheit, dass er nicht ein einziges Mal auf dem Wettbewerbsflügel gespielt hatte, brannte in seiner Seele. Allerdings nicht annähernd so schmerzhaft wie der Verlust seines Rings.

Kasimir seufzte, wandte den Blick über die Schulter zur Tür. Ohne die Schlüsselkarte zu Dawids Hotelzimmer hätte er nicht gewusst, wohin. Dawid zog sich vermutlich auf Kasimirs Zimmer um. Gemeinsam mit dem Mann, der von diesem ganzen Unheil profitierte.

Kasimir ballte die Hände zu Fäusten. Er würde Elias so gern hassen. Dafür, dass er ihn in die Falle gelockt hatte, mit ihm spielte wie mit einer Marionette. Aber es ging nicht. Er trug keine Schuld an Kasimirs Eifersucht, seiner Willensschwäche. Er hatte seiner Schwester einen Vorteil verschafft, und damit im Umkehrschluss auch Leonhard. Das war das einzig Positive an dieser Situation.

Der dumpfe Klang eines Gesprächs ließ ihn aufhorchen, Hotelgäste liefen durch den Gang. Es war so weit. Die Besucher begaben sich auf ihre Plätze, die Musiker zu den Künstlerräumen hinter der Bühne. Vor diesem Moment fürchtete Kasimir sich seit Stunden. Ihm war genug Zeit geblieben, sich auf die drohende Abscheu des Publikums vorzubereiten, doch nun fühlte er sich weiter entfernt vom rettenden Ufer denn je. Sein Boot wurde von den Wellen umher gepeitscht, und er klammerte sich krampfhaft an die Reling. Die einzige Hoffnung blieb, dass er sich bis zur Darbietung festhalten konnte, andernfalls sank er auf den Grund des Meeres.

Aber wenigstens zog er den Menschen, den er liebte, nicht mit sich in die Tiefe.

🎵🎵🎵

Der Künstlerraum, den Kasimir eine Viertelstunde vor Beginn der Show betrat, war leer. Er schob leise die Tür hinter sich zu, lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Bis zum letztmöglichen Moment hatte er auf dem Zimmer ausgeharrt. Wahrscheinlich saßen die anderen Kandidaten längst auf ihren reservierten Plätzen im großen Konzertsaal.

Er sank auf den Hocker vor dem Spiegel, zupfte zwei Strähnen aus seiner Stirn. An den Ärmeln seines Sakkos hafteten die hartnäckigen Schmutzreste der Plaza, im Laufe des Vorabends hatten Schuhsohlen Abdrücke darauf hinterlassen. Nun musste er sich dem Publikum so präsentieren, wie er sich fühlte. Dreckig und in den Boden gestampft.

Das Klicken der Türklinke ließ ihn zusammenzucken. Der unerwartete Besucher nahm sich Zeit, die Anspannung in Kasimirs Körper unerträglich zu steigern. Leider erlöste ihn der Anblick des Gesichts im Türspalt nicht im Geringsten.

Elias betrat wortlos den Raum, schob die Tür hinter sich zu. Er sah blendend aus, trug einen schwarzen Smoking, der seine muskulöse Statur adelte. Er ging ein paar Schritte auf Kasimir zu, griff in seine Brusttasche und zog ein Brillenetui hervor, hielt es ihm entgegen.

»Die hast du auf unserem Zimmer vergessen.«

Er blieb mitten im Raum stehen. So weit entfernt, dass Kasimir aufstehen und sich ihm nähern musste. Es brauchte Überwindung, ihm das Etui aus der Hand zu nehmen. Mit den Fingerspitzen seine Haut zu streifen.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt