All Eyes On Us [3]

[15] Nachtlied, pt. 1

Die Klaviatur war ein Ballsaal. Perlweiße Vorhänge, schwarzes Parkett, unsichtbare Spuren aus Noten. Die Tasten verneigten sich, sobald sie von einem Finger zum Tanz gebeten wurden, und bedankten sich mit dem Hall ihrer Schritte.

Leo liebte es, ihren Bewegungen zu lauschen. Er liebte das harmonische Glimmen der Tastenlichter, das der Monochromie des Klaviers Farben verlieh; Glühwürmchen in einer finsterlauen Juninacht. Am liebsten waren ihm jedoch die Hände, deren sanfte Impulse sich an die Saiten schmiegten wie Morgentau über Spinnenweben. Sie umarmten die Melodie, küssten sie in der Cadenza. Alle Blicke waren auf sie gerichtet.

Auf ein perfektes Paar Hände.

Als das YouTube-Video endete, lehnte Leo sich in seinem Bürostuhl zurück und betrachtete seine geöffneten Handflächen. Feine, weiche Linien, die viel deutlicher hervorgetreten waren, als seine Finger noch regelmäßig mit Tasten in Berührung gekommen waren. Mit ihnen hatte er Träume gemalt, seine Fantasie in Noten gerahmt und seine Einsamkeit vergessen.

Er drehte seine linke Hand vor den Augen und musterte den schmalen Handrücken, die gekrümmten Finger. Dann senkte er den Blick auf den bunten Flyer, den er mit einem Klebestreifen an seinem Monitor befestigt hatte. Mittlerweile wusste er, was darauf stand.

Paradiesnoten-Klavierschule, Inhaberin: Elise Arendt. Musikunterricht für klein, groß und einzigartig.

Der Schriftzug tanzte um einen künstlerisch gezeichneten roten Flügel. Darunter war der Text noch einmal in Brailleschrift graviert, gesäumt von bunten Noten. Es war eine so fröhliche, samtherzige Einladung in die Welt der Musik, dass Leo es nicht über sich brachte, sie in den Papierkorb zu werfen. Stattdessen ertrug er jedes Mal dieses feine Ziehen in der Brust, wenn er die Illustration betrachtete. Er würde Elises Angebot nicht annehmen, konnte es nicht. Weil es für Menschen galt, die sich als einzigartig definierten.

Nicht als unvollständig.

Ein leises Klopfen drang durch die geschlossene Bürotür. Leo sah auf und brachte ein kleinlautes »Herein« über die Lippen, woraufhin Jana den Raum betrat. Die Tabs auf seinem Bildschirm plakatierten seine geistige Inaktivität, und ihm stieg Wärme ins Gesicht, als seine Chefin schmunzelnd das angehaltene Video betrachtete.

»Du solltest nach Hause fahren und dir sein Klavierspiel live anhören«, sagte sie und ließ sich auf dem Stuhl an der gegenüberliegenden Schreibtischseite nieder, nickte zur Wanduhr. »Es ist gleich acht.«

»Echt, schon?« Leo wandte den Blick zum Fenster hinaus. Die Dunkelheit jenseits der Scheibe ließ ihn schlucken, offenbar hatte er die Schließzeit der Agentur neu definiert. »Tut mir leid. Hab nicht auf die Uhr geschaut.«

»Bei mir brauchst du dich nicht zu entschuldigen. Ich werde meinen Angestellten kaum von der Arbeit abhalten.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, ihr Blick ging wieder zum Bildschirm. »Aber dein Freund macht mir die Hölle heiß, wenn du die Abende hier verbringst, statt mit ihm.«

»Gut möglich.« Leo zog lächelnd die Unterlippe zwischen die Zähne. »Eigentlich wollte ich vorhin schon Feierabend machen, bin aber an einem von Kasis Videos hängen geblieben.«

Und dann am nächsten. Am nächsten. Bis er die Welt um sich herum vergessen hatte.

Seit Kasimirs atemberaubender Qualifikationsdarbietung fiel es Leo schwer, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als das Spiel seines Freundes. Dieses Feuer, dieses leidenschaftliche Tempo. Er hatte geglaubt, Kasimirs Emotionen am Klavier zu kennen, doch dieser Vortrag hatte seine Auffassung umgedreht. Es gab noch so viel für ihn zu entdecken an diesem Mann. Auf der Bühne und abseits davon.

»Du bist sein größter Fan«, lachte Jana und schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich stammt die Hälfte der Aufrufe seiner Clips von dir.«

»Ach was.« Leo spürte, wie er rot anlief, und räusperte sich, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Er hat jede Menge Bewunderer.«