[77] Etüde, pt. 1

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Der Saal war erfüllt von Gesprächen. In allen Rängen funkelten Kleider, das goldene Licht glomm in den Herzen des Publikums, der Pianisten. In seinem.

Kasimir trat die erste Reihe entlang; sein Blick glitt über die vollbesetzte Loge. Schon als Kind hatte er davon geträumt, in solch einer Atmosphäre zu spielen. Jetzt wurde ihm bewusst, dass keine Vorstellung in die Nähe der Realität kam.

Er blieb vor dem nummerierten Sitz stehen, den Elise ihm genannt hatte, ehe sie am Morgen das Café für die Generalprobe verlassen hatte. Auf der Polsterlehne haftete ein Schild mit ihrem Namen, dem Logo der Pianovision und der deutschen Flagge. Es war der neunte Platz in der Reihe, links von Leonhard. Dawids Name stand an siebter Stelle.

Kasimir sank ins Polster, strich mit den Fingerspitzen über den Bezug. Jetzt, da er den perlweißen Flügel auf der Bühne sah, drückte Nervosität auf seine Brust. Über Stunden hinweg hatte er in diesem Café geübt und ausgeblendet, wie wahnsinnig dieses Unterfangen war. Nicht, weil er sich dem Stück nicht gewachsen fühlte; Elises Part war überraschend leicht zu spielen. Sondern weil er er war. Nicht sie.

Als sich jemand neben ihm niederließ, rutschte Kasimir beiseite. Er wollte so wenig auffallen wie möglich, am besten mit niemandem sprechen.

»Wie geht's dir?«

Ein Schauer rann über seinen Rücken. Statt dem schwedischen Kandidaten saß Elias Arendt zu seiner Linken. Seine Locken waren mit Gel zurückgelegt, er trug einen maßgeschneiderten Smoking und hatte sein Ozeanparfüm angelegt. Der intensive Duft drückte Kasimir auf die Kehle.

»Geht«, erwiderte er knapp, wandte sich wieder nach vorn. Unfassbar, wie unangenehm ihm Elias' Nähe war. Diesem schien es ähnlich zu gehen; er hielt den maximalen Abstand, den der Sitz zuließ.

»Wieso bist du nicht bei Dawid?«, murmelte Kasimir. Elias nickte zu einer unscheinbaren Tür neben der Bühne.

»Er ist im Backstagebereich. Zusammen mit den anderen Kandidaten.«

Kasimir folgte seinem Wink. Es stimmte, auch Leonhard war vor etwa zwanzig Minuten verschwunden, um sich auf die Eröffnung der Show vorzubereiten. Die Kandidaten aller Länder würden unter Applaus die Bühne betreten, sich verbeugen, nacheinander ihre Meisterwerke präsentieren. Und Kasimir musste sich als schwarzes Schaf dazwischen schmuggeln.

»Hör zu.« Elias stützte seine Hände auf die Knie. »Was ich gesagt habe, meine ich ernst. Es tut mir leid, was ich dir und Leonhard angetan habe. Ich möchte mich revanchieren.«

Er betrachtete den Flügel, an dem seine Schwester heute hätte glänzen sollen, seufzte leise. Kasimir ahnte, wie sehr ihn die Situation frustrierte. All seine Hoffnungen waren ins Leere gelaufen, und nun musste er dabei zusehen, wie das, was er sich für Elise wünschte, einem anderen zufiel. Jemandem, der diesen Platz nicht einmal verdiente.

»Der Vorentscheid spielt keine Rolle«, sagte Elias, ohne den Blick von der Bühne zu lösen. »Du musst dich davon abkapseln.«

Kasimir verspannte sich, etwas schabte in seiner Brust. Ein grausames Gefühl, das er von seinem Herzen fernhalten musste.

»Ich habe überhaupt nicht daran gedacht.«

»Warum zittern dann deine Hände?«

Elias flüsterte nur, doch es genügte, um Kasimirs Herz aufzuscheuchen. Er verbarg die Finger in den Fäusten, konzentrierte sich auf den Flügel, der soeben geöffnet wurde. Versuchte, die beißende Kälte in seiner Brust zu ignorieren.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt