[16] Nachtlied, pt. 2 [E]

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Es war still im Raum. Die Kaninchen schlummerten dicht aneinandergeschmiegt in ihrem Holzhäuschen. Die Kerzenflamme, die Kasimir kurz nach Sonnenuntergang auf dem Couchtisch entzündet hatte, flackerte lautlos und bemalte die Fensterscheibe in orangeseidenen Tönen. Die Nacht dahinter funkelte dunkel, weit und leer.

Genau wie seine Kreativität.

Er legte die Hände auf seine Oberschenkel und betrachtete das kärglich beschriebene Notenblatt auf seinem Klavierpult. Normalerweise haderte er nicht mit dem Auftakt eines neuen Stückes. Für ihn war Komponieren eine Expedition auf Notenschienen, die seine Fantasie hinaus führte in die Unendlichkeit. Sie brauste über alle Schranken hinweg, wenn seine Traumlok ihr Tempo erreicht hatte.

Doch heute wollte sie den Bahnhof nicht verlassen.

Kasimirs Blick wanderte zu seinem Handy, das auf dem Klaviergehäuse lag. Bevor er sich auf den Hocker gesetzt hatte, hatte er sich drei Mal Dawids Performance angesehen. Er musste etwas Besseres schreiben als ›Frozen Flames‹. Angesichts der Perfektion des Stücks erschien ihm allerdings jede Akkordfolge, die er den Tasten anvertraute, dilettantisch.

Er seufzte, knüllte das Notenblatt zusammen und ließ es auf den Boden fallen. Leises Geraschel drang vom Kaninchenauslauf zu ihm herüber. Sekunden später hörte er das Rasseln eines Schlüsselbundes, wandte den Blick zur Wohnzimmertür und dann zum Ziffernblatt der Wanduhr. Es war bereits kurz nach neun, ungewöhnlich spät für Leonhards Rückkehr. Als sein Freund daraufhin im Türrahmen auftauchte, konnte Kasimir ihm die Müdigkeit vom Gesicht ablesen.

»Hey«, sagte Leonhard mit einem faden Schmunzeln und schlich zu ihm vors Klavier. Sein blondes Haar war durcheinander, wahrscheinlich hatte er sich eben die Mütze vom Kopf gezupft. Das zitternde Glimmen des Kerzenflämmchens funkelte in den abstehenden Strähnen, spielte mit dem Goldbraun seiner Augen. Es war ein warmer, weicher Anblick, der die Frustration aus Kasimirs Herz tilgte.

»Hat Jana dich festgehalten?«, fragte er, nachdem Leonhard an seine Seite getreten war, und strich ihm mit der Hand über den Rücken. Der Stoff unter seinen Fingerspitzen war rau, ausgewaschen. Vertraut.

Sein Freund schüttelte den Kopf. »Hab getrödelt.«

»Siehst ziemlich fertig aus.«

»Findest du?«, meinte Leonhard mit einem leichten Lachen, das sich wohlig an Kasimirs Ohrmuscheln schmiegte. So jungenhaft verloren, erschöpft und doch elektrisierend. »Wahrscheinlich hab ich zu lange auf den Bildschirm gestarrt. Ist anstrengend, zu verfolgen, wie schnell deine Followerzahlen steigen, weißt du?«

Beim Klang seiner gut gemeinten Worte erkaltete die sanfte Wonne und schuf der Unruhe Platz, die Kasimir seit dem Qualifikationsvorspiel immer öfter überfiel. Die Nervosität zuckte plötzlich durch seine Fingerspitzen wie das Knacken eines Stromzauns, und er biss sich auf die Lippen, als Leonhard nach seiner Hand griff.

»Du zitterst wieder. Immer noch die Erkältung?«, wisperte er. Als Kasimir nickte, legte sich Leonhards Stirn in Falten. »Ganz schön hartnäckig. Vielleicht solltest du damit zum Arzt.«

»Halb so wild. Hab kaum Symptome.«

»Trotzdem.« Leonhard massierte sanft seine Finger, strich mit dem Daumen über jeden einzelnen Fingerrücken. »Ich mag's nicht, wenn du angeschlagen arbeitest. So kannst du dich doch kaum konzentrieren ...«

Sein Blick wanderte hinab zu dem zusammengeknautschten Kompositionsentwurf, und Kasimir bereute, ihn nicht sofort entsorgt zu haben. Er wollte nicht, dass Leonhard sich um seine Schreibblockade sorgte, und zog ihn am Handgelenk näher an sich heran.

»Mir geht's gut, Leo. Du siehst blass aus«, erwiderte er und touchierte zärtlich die Wange seines Freundes. »Ist irgendwas passiert? Stress mit einem Klienten?«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt