[48] Contredanse, pt. 5

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Kasimir brach kalter Schweiß aus. Er fokussierte das Handy in Elias' Hand wie ein Messer, das ihm gleich in den Bauch gerammt wurde. Die Schmerzen spürte er schon jetzt.

»›Églantine‹ ...«, wisperte Elias, wiegte den Kopf zur Melodie. »War schwer, die Originalaufnahme zu finden. Ich denke nicht, dass es der Jury aufgefallen wäre. Du hast einige Passagen ausgeschmückt. Ihnen deinen Stempel aufgedrückt, oder wie würdest du es beschreiben?«

Nein. Nein, nein, nein.

Kasimirs Atmung schnappte. Er brachte kein Wort hervor.

»Als ich gestern vor der Gala nach Leonhard gesehen habe, ist mir aufgefallen, dass er friert«, fuhr Elias fort, während das Klavierstück weiterlief. »Er hatte kaum warme Kleidung in seinem Koffer, also bin ich zurück aufs Zimmer und habe in deiner Tasche nach einem Pullover gesucht. Dabei ist mir das hier in die Hände gefallen.«

Er unterbrach die Aufnahme und rief seine Galerie auf, hielt Kasimir Fotografien von Notenblättern entgegen. Ein Musikstück, das Kasimir sich vor Wochen aus den Tiefen des Netzes heruntergeladen und händisch umgeschrieben hatte.

Die Signatur seines Vaters.

»Alain Gaillard ...«, murmelte Elias, scrollte durch die Bilder. »Ich hoffe, du hast seine Erlaubnis eingeholt. Sonst kann er dich auf Diebstahl geistigen Eigentums verklagen.«

Das war ein Traum. Ein böser Traum. Bitte.

Kasimir legte beide Hände an den Hinterkopf. Die Melodie dröhnte in seinem Kopf, zerfetzte seine Gedanken, seinen Verstand. Sein Gewissen.

»Du bist ein Betrüger, Kasimir Hasenick. Auf so vielen Ebenen.« Elias steckte sein Handy zurück in die Hosentasche. »Sobald die Jury davon erfährt, bist du disqualifiziert. Du verlierst deine Kandidatur, deine Glaubwürdigkeit, deine Klienten. Vielleicht sogar deinen Studienplatz. Dann weiß alle Welt, wer du wirklich bist.«

»Nein, ich ... n-nein ...«

Kasimir rang nach Luft, sank in die Knie, umklammerte seine Brust. Die innere Kälte spießte in seine Lungen, machte jeden Atemzug krächzend, schmerzhaft.

Elias trat auf ihn zu, hockte sich vor ihn und fixierte seine Schultern.

»Ruhig. Einatmen, ausatmen«, sagte er wie damals, als Kasimir während der Qualifikation mit seiner Panikattacke gerungen hatte. »Niemand weiß davon, nur ich.« Er strich ihm sorgsam über die Oberarme, bis Kasimirs Atmung regelmäßiger wurde. »Ich erzähle es niemandem. Du musst nur auf dein Zimmer gehen und dort bleiben. Dann kommst du mit minimalem Imageschaden aus der Geschichte raus.«

Kasimir krallte die Finger in Elias' Anzugjacke, drückte keuchend den Kopf gegen seine Brust. Seine Stirn brannte, seine Lungenflügel standen kurz vor dem Platzen, alle Organe schienen gegeneinander zu arbeiten. Es zerriss ihn innerlich.

Was sollte er machen? Was?

»Lass ihn los.«

Kasimir schlug die Augen auf. Spürte in den Fingerspitzen, wie sich Elias' Ärmel in Falten legten. Wie er sich nach etwas umwandte. 

Nach jemandem.

»Das ist der Künstlerbereich. Du hast hier nichts verloren.« Der Türriegel klackte ins Schloss, Schritte federten auf dem Parkett. Stoppten mitten im Raum. »Wenn du nicht sofort gehst, rufe ich den Sicherheitsdienst.«

Kasimirs Atemzüge wurden flacher, schmerzten weniger. Er spürte, wie Elias die Hände von seinem Jackett löste, sich beim Aufstehen umdrehte. Nun versperrte nichts mehr Kasimirs Blick auf den blonden Jungen im roten Sakko, der kerzengerade vor Elias stand. Seine Mimik war unscharf vor Kasimirs Augen, aber der Klang seiner Stimme klar.

»Was machst du hier?« Anspannung schwelte in Elias' Worten. »Du solltest im Konzertsaal sein.«

»Ja. Genau wie er. Und wir werden dorthin gehen.« Leonhards Kinn senkte sich, er sah auf Kasimir herab. »Gemeinsam.«

»Das wirst du gleich anders sehen.«

»Nein«, erwiderte Leonhard so gefasst, dass Kasimir erstarrte. Er erkannte seinen Freund nicht wieder. »Ich kenne die Presseberichte.«

Elias schwieg einen Moment, dann zischte er. Kasimir sah, wie er seine Hand hinter dem Rücken so fest zur Faust ballte, dass die Knöchel hervortraten. »Das ist nicht alles. Du ...«

»Ich weiß von dem Lied.«

Leonhard antwortete entschieden. Kasimirs Sinne waren vom Stress so geschwächt, dass er nicht einmal schockiert war von der Enthüllung. Auch Elias rührte sich nicht, doch seine Faust begann zu beben.

»Überleg' dir, was du sagst. Ich muss nur einen Post verfassen, schon fällt sein Kartenhaus in sich zusammen.«

»In dem Fall werde ich nicht spielen.« Leonhard trat einen Schritt auf ihn zu. Er war deutlich kleiner als Elias, wirkte jedoch nicht im Ansatz eingeschüchtert. »Dringt ein Wort davon an die Öffentlichkeit, ziehe ich meine Kandidatur zurück.«

Elias schnaubte. »Nur zu. Elise kann genauso gut ohne dich ...«

»Das gilt auch für sie. Wenn ich nicht spiele, spielt sie nicht. Dann waren all deine Intrigen umsonst.«

Dabei beließ er es. Kasimir glaubte kaum, dass dies derselbe Junge war, der gestern noch kraftlos im Bett gelegen und kaum einen Satz hervorgebracht hatte. Er war stark. Viel stärker als er selbst.

Elias schwieg. Keine Entgegnung, kein Ass, das er aus dem Ärmel zog. Er war bloßgestellt, trotz aller Trümpfe in seiner Hand.

Und er wusste es.

Langsam erhob er sich, trat direkt vor Leonhard, sah ihm in die Augen. Dann griff er plötzlich fest in Leonhards Revers, drängte ihn rückwärts und presste ihn gewaltsam mit dem Rücken gegen die Wand. Alles ging so schnell, dass Kasimir nur japsend dabei zusehen konnte, wie Elias seinen Freund am Kragen packte und sich ganz nah vor sein Gesicht beugte.

»Wie du willst. Gib ihm seine Shitshow. Du bist der Manager.« Er ruckte Leonhard grob an sich heran, legte die Lippen an dessen Ohr. Flüsterte gerade so laut, dass Kasimir es verstand. »Muss schrecklich sein, jemandem die Hand zu reichen, der einen nach Strich und Faden verarscht. Aber manche Menschen stehen drauf.«

Damit schubste er Leonhard so kraftvoll von sich, dass dieser erneut mit den Schulterblättern gegen die Wand prallte. Er fokussierte Kasimir stechend, dann verließ er den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.

Zurück blieb Stille.

Kasimir sah blinzelnd zu seinem Freund auf, erkannte, wie Leonhard sich an den Hals griff; seine Schultern hoben und senkten sich heftig. Jetzt, da Elias verschwunden war, bröckelte seine Maske.

Mit den Fäusten stützte Kasimir sich in die Hocke, kam taumelig auf die Beine. Er war so erschöpft von dem Anfall, dass das Bild vor seinen Augen flimmerte. Dennoch erkannte er, wie der Junge, der Elias eben forsch die Stirn geboten hatte, fleckig im Gesicht wurde und seinem Blick auswich.

»Bist ... bist du ... okay?«, brachte Kasimir stockend hervor. Leonhard nickte, wandte sich ab. Seine Körpersprache war gezeichnet von Angst.

»Die S-Show beginnt gleich«, wisperte er, zupfte zittrig seine Fliege zurecht. »Du beeilst dich besser.«

»Warte ... Leo.« Kasimir taumelte auf ihn zu, konnte keinen Gedanken fassen. Er wusste nur, dass er nicht auf diese Weise mit ihm auseinandergehen wollte. »Ich ... was in der Zeitung steht ...«

»I-ich will es nicht wissen.«

Leonhards Schultern bebten, seine Hände lagen eng an seinem Körper an, verschwanden fast in den Ärmeln seines Sakkos. Kasimir wollte danach greifen, zog die Hand jedoch auf halber Strecke zurück.

»Bitte, Leo, es ...«

... tut mir leid.

Er brachte die Worte nicht über die Lippen. Sie umfassten nicht annähernd den Schmerz, den er Leonhard zugefügt hatte. Sie machten nichts gut.

Es waren nichts als Worte.

»Bring den Auftritt hinter dich«, flüsterte Leonhard mit belegter Stimme, trat zur Tür. Drehte sich nicht mehr nach ihm um. »Der Rest ist egal.«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt