[61] Hurtless

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Die Sonne prasselte auf die Kirschbäume herab, die den Garten der Rochats in ein Bienenparadies verwandelten. Kasimir sank in die Hängematte zwischen den Stämmen, pustete sich eine Strähne aus der Stirn und ließ den Blick über sein Werk schweifen. Drei umgegrabene Beete, vier verschnittene Rosen und ein Eimer voll Kartoffelsetzlinge, deren Knollen bald das Licht der Welt erblickten. Kaum zu glauben, dass ihm die botanischen Predigten seiner Großmutter zwanzig Jahre später halfen, den Garten seines Vaters auf Vordermann zu bringen.

Er verschränkte einen Arm hinter dem Kopf, klaubte eine Handvoll Kirschen vom Ast und ließ sich von der Alpenbrise wiegen. Es war idyllisch hier. Das Summen der Insekten, die weichen Kumuluswolken, die sich über den Himmel wälzten. Vielleicht blieb er über den Sommer, machte sich nützlich. Er wollte unbedingt Alains und Adèles Musikschule sehen, ihnen beim Unterrichten über die Schulter schauen. Bislang hatte er sich auf die Verbesserung seines Spiels konzentriert, vor Prüfungssituationen gezittert, sich abhängig gemacht von der Meinung anderer. Wie fühlte es sich an, auf der anderen Seite zu stehen? Musikern, die mit sich haderten, eine Perspektive zu zeigen? Vielleicht gäbe es ihm Sicherheit, wenn nicht alle Augen auf ihn gerichtet waren. Sondern auf das, was er zu tun liebte.

Der Gedanke hinterließ ein Schmunzeln auf seinen Lippen, er schob sich eine Kirsche in den Mund. Verrückt, welche Ideen in der Isolation durch seinen Kopf spukten. Vermutlich musste er beten, überhaupt zum Masterkonzert zugelassen zu werden. Er versäumte gerade sämtliche Kurse, hatte keine Aussicht auf Auftritte, übte nicht einmal. Und doch fühlte er sich besser als in der Hochphase seiner Popularität, freier. Wenn auch unvollständig.

Kasimir seufzte, drehte sich auf die Seite. Am besten, er verschlief den Nachmittag. Abends konnte er sich mit Adèle unterhalten, ihr beim Kochen zur Hand gehen. Die schmerzhafte Einsamkeit, die ihn jede Nacht überfiel, hinauszögern.

Er war gerade am Eindösen, als ihm etwas in den Rücken stupste. Aus dem Lidwinkel sah er, dass Mirabelle mit triefender Zunge vor der Hängematte saß. Er hatte sie ein einziges Mal Spazieren geführt, um Adèle zu entlasten. In Labradorlogik hatte er damit offenbar ein Abo abgeschlossen.

»Grab' irgendwas um ...«, murrte er, erhob sich jedoch, als sie ihn abermals mit ihrer feuchten Nase bedrängte. Kaninchen waren definitiv pflegeleichter. Und zarter. Und stanken nicht.

Er trottete zur Terrasse, öffnete die Schiebetür, woraufhin Mirabelle wie gestochen ins Haus sauste. Er brachte es besser hinter sich, bevor er anfing, seine Haustiere zu vermissen. Vermutlich passte Paula auf Leonie und Fiver auf, während Leonhard unterwegs war. Vielleicht fragte er sie später, ob sie ihm ein Bild von ihnen schickte.

Als er in den Flur trat, saß Mirabelle bereits hechelnd vor dem Kleiderständer, an dem ihre Leine hing. Sie war so aufgeregt, dass sich das Anlegen des Halsbands zum Kraftakt entwickelte. Sanft gespielte Akkorde hinter der geschlossenen Wohnzimmertür vertonten Kasimirs Kampf. Seit seinem Kommentar vor zwei Tagen spielte Martin nicht mehr, solange er sich im Nebenraum aufhielt. Vermutlich zog es Kasimir deshalb nach draußen. Er wollte Martin nicht daran hindern, sich auf sein Examen vorzubereiten. Selbst wenn er dafür den gesamten Garten umgraben musste.

»Braves Dummbrot.« Er tätschelte Mirabelles Nacken, als sie endlich angeleint zu seinen Füßen saß. Während er in ein paar alte Laufschuhe von Alain schlüpfte, änderte sich die Akkordfolge im Wohnzimmer. Ein unentschlossener Auftakt in A-Moll wurde aufgefangen von F-Dur- und C-Dur-Passagen, zerfloss in G-Dur. Das Spielmuster kam Kasimir bekannt vor. Und als Martins Stimme gedämpft durch die Tür drang, wusste er auch warum.

»I remember the day that we met
You where like a light I didn't know that I needed ...«

Kasimir drückte die Leine in seiner Hand zusammen. Martins Worte klangen weich und gefühlvoll. Einige Silben brachen unter dem Einfluss seines Stimmwechsels, doch sie verliehen seinem Gesang eine Verletzlichkeit, die der Melancholie des Lieds gerecht wurde. Er traf jeden Ton, die Akkorde unter seinen Fingern schmiegten sich an die Melodie. Fesselten Kasimir an die Zeilen, ihre Bedeutung. Ihren Schmerz.

»And you stayed out that night after we had a fight
and my friends said they saw you with him ...«

Martin schlug kräftiger in die Tasten, spielte sich den Frust der vergangenen Tage von der Seele. Darüber, dass er seinen Ansprüchen nicht genügen konnte. Nicht gesehen wurde von dem Menschen, dessen Aufmerksamkeit ihm alles bedeutete.

»It was never meant to end like this
standing in the rain with your black dress ...«

Mirabelle schüttelte sich, ihr Schwanz wackelte vor Vorfreude, sie wollte los. Doch Kasimir bewegte sich keinen Zentimeter. Ihm wurde mit jedem Vers enger um die Brust. Er schaffte es nicht, sich von den Gefühlen abzukapseln, die plötzlich in ihm aufstiegen.

Er sah Leonhards Lächeln vor sich. Seine blonden Wimpern, die das Gold seiner Iris umrahmten. Seine ungekämmten Haare am Morgen. Die Berührungen seiner tauben Fingerrücken, die Leonhard selbst nicht spürte. Sein jungenhaftes Lachen, wenn er Kasimir mit herumliegenden Kleidungsstücken bewarf. Seine quietschbunten Socken, die Kaninchenfotos, die er gegen Kasimirs Willen an die Wand geklebt hatte.

Ihn.

»But telling me that it was a mistake
don't make it hurt less ...«

Martin sang so kraftvoll, so emotional, dass Kasimirs Beherrschung kippte. Er legte die Hand über seine Augen, atmete durch, doch die Tränen kamen trotzdem. Sie fühlten sich anders an als zuletzt. Als gäbe Martins Stimme ihnen die Erlaubnis, zu fließen. Sie zwangen Kasimir kein Schluchzen auf, vermittelten ihm nicht das Gefühl von Erbärmlichkeit. Sie ließen ihn spüren, dass das, was er für Leonhard empfand, echt war. Dass seine Liebe tiefer reichte als der Hass auf sich selbst. Dass er wieder zu ihm wollte.

»It don't make it hurt less ...«

Der Rhythmus wurde langsamer, die Akkorde verklangen, Ruhe kehrte ein. Kasimir rieb sich mit dem Unterarm übers Gesicht. Unfassbar, wie sehr ihn Martins Interpretation berührte. Er war erst vierzehn Jahre alt, hatte sich vielleicht noch nie in jemanden verliebt, den Schmerz einer Trennung gespürt. Dennoch gelang es ihm, einen erwachsenen Mann zum Weinen zu bringen.

Als die Tür klackte, sah Kasimir zum Wohnzimmer. Martin machte einen Schritt in den Flur und erstarrte, als er ihn entdeckte. Sofort begann Mirabelle vor Freude zu bellen, sprang auf und drängte zu ihm. Kasimirs Hand schnellte an die Leine.

»E-entschuldige ...«, brachte er hervor, blinzelte mehrfach. Er wollte seine tränenden Augen verbergen, musste jedoch Mirabelles Freudentaumel entgegenwirken. »Ich wollte eben mit ihr gehen. I-ich hab dich nicht belauscht ...«

Kasimir konnte nicht einschätzen, wie glaubwürdig sein Gestammel herüberkam. Seine Stimme klang belegt, die Rötungen um seine Lider waren zweifellos sichtbar. Martin legte die Stirn in Falten, zunächst argwöhnisch, dann wurde die Linie weicher. Als wäre er unsicher, wie er Kasimirs Reaktion deuten sollte.

»Du, ähm ... du singst gut. Wirklich.« Kasimir wischte sich mit der Ellenbeuge über die Augen, als Mirabelle sich endlich beruhigte. Sein Herz klopfte noch immer wie verrückt. »Spiel weiter, ich ... ich brauch 'ne Weile ...«

Er wandte sich zur Haustür und motivierte den Hund mit einem leisen »allez« zum Gehen. Als der Riegel hinter ihm ins Schloss fiel, atmete Kasimir durch und legte die Hand an die Stirn. Er wollte sich nicht vorstellen, was Martin von ihm dachte. Aber wenigstens hatte keine Ablehnung in seinem Blick gefunkelt.

Vielmehr Überraschung.



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🎶🎤 Dean Lewis - Hurtless

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt