[49] Kyrie

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Der große Konzertsaal strahlte in der Pracht der Sterne. Die Publikumsterrassen waren voll besetzt, Scheinwerfer verliehen der Bühne einen Heiligenschein. Alles war perfekt, nichts an diesem Ort wirkte verfehlt.

Nichts, bis auf ihn.

Kasimir betrat den Saal über den Seitenzugang der Parkettreihe. Die wenigen Zuschauer, die sein Erscheinen bemerkten, sahen ihm nach, doch er konnte es erstaunlich gut ausblenden. Vielleicht war es die Atmosphäre, vielleicht die innere Taubheit, die er nach dem Konflikt im Vorbereitungsraum verspürte.

Auf der Bühne hielt der Bürgermeister Hamburgs eine flammende Rede über das Event. Kasimir fokussierte den einzig frei gebliebenen Platz in der Kandidatenreihe. An fünfter Stelle, zur Rechten des Kandidaten Brandenburgs.

Zur Linken von Leonhard.

Während die Pianisten zur Bühne blickten, ließ er sich nieder. Er hatte das Gefühl, dass sie ihre Aufmerksamkeit zwanghaft auf den Vortrag richteten, spürte jedoch aller paar Sekunden einen Seitenblick, besonders häufig von Elise. Nur Leonhard sah kein einziges Mal zu ihm.

»Genug der Worte. Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Konzertabend und allen Kandidaten viel Erfolg«, vollendete der Bürgermeister und übergab das Mikro an die Moderatorin. Sie trug ein silbernes Paillettenkleid, das im Scheinwerferlicht funkelte wie Sternenregen.

»Dem kann ich mich nur anschließen.« Sie deutete mit einem strahlenden Lächeln in die Kandidatenreihe. »Es wird Zeit, unsere achtzehn Talente kennenzulernen.« Ihre Geste schwenkte zu den Leinwänden, die an transparenten Seilen von der Decke hingen. Das Licht im Saal verdunkelte sich, kurz darauf erschien auf den Bildschirmen ein Einspieler, der Aufnahmen von tanzenden Fingern über der Klaviatur zeigte, das Logo der Pianovision im Zentrum. »Wir haben die besten Pianisten aller Bundesländer versammelt, um unseren Kandidaten für die große Liveshow in Paris zu finden.« Bilder aller Teilnehmer flackerten auf, sofort erhob sich Applaus. Kasimir verengte die Lider, als eine Videosequenz von seinem YouTube-Channel erschien und geschmeidig in eine Konzertaufnahme überging. Die Szene war perfekt geschnitten, zeigte Kasimirs virtuoseste Momente, seine beste Haltung.

Sein Blick glitt zu Leonhard, auch dessen Aufmerksamkeit haftete an der Leinwand. In seiner Mimik tat sich nichts, doch dieser Clip trug seine Handschrift. Obwohl er krank gewesen war, obwohl Kasimir ihn wochenlang alleingelassen hatte, hatte er sein Spiel perfekt in Szene gesetzt. Es war kaum auszuhalten, angesichts dessen, was er ihm angetan hatte.

Als der Applaus anschwoll, richtete er den Blick wieder zur Leinwand. Das Konterfei des bayerischen Kandidaten war darauf zu erkennen, seine akademische Laufbahn, seine Auszeichnungen. »Maxim Stiegler, zweiunddreißig Jahre«, erklärte die Moderatorin, »zweifacher Preisträger des Gustav-Mahler-Preises der Hochschule für Bildende Künste ...«

Während sie sprach, drehte sich Kasimir der Magen um. Wie würde das Publikum auf seine Vita reagieren? Selbst wenn er Elias' Drohungen außer Acht ließ, mit einer Sache lag er richtig: Kasimir hatte Angst vor negativer Response. Er wollte nicht ausgepfiffen werden, nicht, bevor er sich an den Tasten beweisen konnte.

Allerdings wich die Sorge davor dem Schreck, als plötzlich ein Jubelsturm losbrach.

Elises und Leonhards Profile erschienen auf den Bildschirmen. Nur einen Moment später erhoben sie sich neben ihm, wandten sich dem Publikum zu, winkten. Auf Leonhards Lippen lag ein Lächeln. So makellos, dass Kasimir das Blut in den Adern gefror.

»Elise Arendt, Absolventin der Universität der Künste, Berlin«, fuhr die Moderatorin fort. »Bechstein-Stipendiatin, dreifache Gewinnerin der German Piano Awards, Siegerin bei den Rachmaninoff-Festspielen, zweifache Preisträgerin des Deutschen Hochschulpreises ....«

Es hörte nicht auf. Kasimir sah entgeistert zu Elise, die ebenfalls lächelnd in die Ränge winkte. Er hatte nicht gewusst, wie erfolgreich sie bis zum abrupten Ende ihrer Karriere gewesen war. Das waren alles Auszeichnungen, von denen er nur träumen konnte.

»... der YouTube-Award für ihren Kanal KeysOfEli! Und an ihrer Seite der jüngste Preisträger des renommierten Nachwuchspianistenwettbewerbs Harmonica, Leonhard Valentin!«

Begeisterte Pfiffe tönten durch den Saal. Kasimir hatte den Eindruck, dass Leonhards Bilderbuchlächeln kurz flackerte. Dann schwanden ihre Gesichter von den Leinwänden und die beiden setzten sich wieder. Nun wechselte die Animation zum vierten Kandidaten, und der Jubel flachte erstmals ab.

Deutlich.

»Kasimir Hasenick, Absolvent der Universität der Künste, Berlin. Zweifacher Preisträger des Jungpianistenwettbewerbs Harmonica, insbesondere Gewinner der zwanzigjährigen Jubiläumsveranstaltung ...«

Pfiffe begleiteten ihre Worte, doch sie klangen anders als bei Leonhards und Elises Vorstellung. Offensiver.

Um Kasimir erhob sich Getuschel, einzelne Buhrufe drangen aus den Reihen. Er presste die Hände auf den Oberschenkeln zusammen, starrte sich an seinen Knien fest. Sein Herz klopfte wie wild, jedes abwertende Pfeifen schnitt in sein Selbstwertgefühl. Er hatte geahnt, was ihm bevorstand. Nicht jedoch, dass es so wehtat.

Aus dem Augenwinkel sah er zu Leonhard. Der Fokus seines Freundes ruhte auf dem Flügel, er verfolgte die Ansprache der Moderation nicht. Vielleicht war es ein Abwehrreflex, um seine Konzentration zu erhalten. Dennoch schmerzte es Kasimir, dass er jetzt, da er öffentlich gedemütigt wurde, nicht auf seinen Beistand hoffen konnte.

Die übrigen Kandidatenvorstellungen verfolgte Kasimir mit halber Aufmerksamkeit. Zu sehr drückte ihn die Ablehnung des Publikums nieder. Alle anderen Teilnehmer waren mit Applaus empfangen worden. Er war der faule Apfel im Obstkorb.

»Jetzt kommt der Moment, auf den wir seit Monaten hinfiebern«, kündigte die Moderatorin an und trat vor den Flügel, legte ihre Hand auf das polierte, rabenschwarze Gehäuse. »Das Konzertvorspiel um den deutschen Finalteilnehmer des international größten Klaviercontests ist hiermit eröffnet!«

🎵🎵🎵

Die ersten beiden Musikvorträge waren von herausragender Qualität. Es war kein Fehler gewesen, die Konkurrenz während seiner Vorbereitung nicht zu recherchieren; Kasimir hätte bereits in der Übungsphase die Nerven verloren. Sowohl der bayerische Kandidat als auch die badische Teilnehmerin präsentierten sich so souverän, dass er sich in seine Rolle als Student zurückgesetzt fühlte. Sie waren älter als er, hatten gewiss unzählige Auftritte absolviert. Leider machte das die Last, die sich auf seinen Schultern türmte, nicht erträglicher.

»Vielen Dank, Isabelle!« Die Moderatorin schüttelte der Pianistin die Hand und geleitete sie von der Bühne, dann wandte sie sich strahlend ans Publikum. »Nun begrüßen wir den wohl außergewöhnlichsten Live-Act des Abends. Ein Paar wie Himmel und Kosmos, das uns mit seiner besonderen Spielweise begeistern wird. Freuen wir uns auf ›All Eyes On Us‹ unseres jungen Berliner Duos Elise Arendt und Leonhard Valentin!«

Unter tosendem Applaus erhoben sich Kasimirs Freund und seine Duettpartnerin von ihren Sitzen. Leonhard bot ihr seine gelähmte Hand an, sie legte ihre Prothesenfinger hinein. Gemeinsam traten sie zur Bühne, Leonhard führte Elise galant zum Hocker, ließ sich eng neben ihr nieder. Sein rotes Sakko strahlte im Bühnenlicht wie Klatschmohn, wurde nur von ihrer schneeweißen Bluse ausgestochen. Sie sahen aus wie gemalt, ein Kunstwerk zweier schlagender Herzen.

Der Beifall erklang fast eine Minute, bevor er langsam abebbte. Das Licht im Saal erlosch, allein der Flügel glänzte im goldenen Schein des Klangreflektors. Alle Aufmerksamkeit ruhte auf Elise und Leonhard. Sie flüsterten einander zu, berührten mit den Fingerspitzen die Klaviatur. Der gesamte Saal hielt den Atem an, selbst Kasimir war angespannt. Er wollte wissen, was Leonhard geschaffen hatte, welches Feuerwerk Elise und er zünden würden. Und als Leonhard die erste Taste antippte, das Publikum scharf die Luft einzog, die Nervosität gipfelte, wurde es ihm auf einen Schlag klar.

Wie falsch er mit seiner Vorstellung lag.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt