[17] Fantasie, pt. 1

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Verspielter Amselgesang begleitete Leo, seit er die Tram in Stellingdamm verlassen hatte. Er folgte einer Allee hinunter zur Spree, an deren Uferpromenade sich Elise Arendts Musikschule befand. Der Weg war gesäumt von Pappeln und Grünanlagen, und Leo kam nicht umhin, einen tiefen Atemzug zu nehmen.

Früher hatte er sich oft aufs Rad gesetzt und war in die Dresdener Heide gefahren, hatte sich ins Gras gelegt und fernab aller Hektik taggeträumt. Dort waren Melodien in seinem Kopf gewachsen, die er mit nach Hause genommen und am Klavier zum Blühen gebracht hatte.

Manchmal vermisste er diese unbeschwerten Tage.

Vor einer Häuserzeile mit bröckelndem, grauem Fassadenputz blieb er stehen und überprüfte die Hausnummer mit der Adresszeile auf dem Flyer in seiner Hand. Eine knallrote Metallziffer, die mit Notenköpfen verziert war und in der Sonne glänzte. Darunter befand sich ein Schild, auf dem die Öffnungszeiten der Musikschule festgehalten waren.

Leo wurde mulmig, als er davor trat und die Klingel drückte. Laut den Angaben auf dem Schild empfing Elise am Wochenende keine Besucher. Dennoch hatte sie ihn ohne zu zögern hergebeten, als er sie am Morgen angerufen hatte. Insgeheim freute er sich, nicht bis Montag warten zu müssen. Jetzt, da er wusste, welche Berühmtheit ihm über den Weg gelaufen war.

Er hörte eifriges Getrappel hinter der Tür und wich zurück, als sie vor ihm aufgerissen wurde. Elise steckte lächelnd den Kopf durch den Rahmen.

»Schau an, der Agent mit gewissen Vorzügen«, kokettierte sie, worauf Leo Röte ins Gesicht stieg. Ihre wilden Locken waren zu einem Dutt gebunden, mehrere Strähnen sprangen aus dem Zopf. Sie trug eine geblümte Jogginghose und ein weites, weißes Leinenhemd. Der rechte Ärmel hing schlaff herunter, demnach verzichtete sie heute auf das Tragen ihrer Prothese.

»Schön, dass du hergefunden hast. Komm rein.« Sie bat ihn mit einer Handbewegung in den Flur. Leo brachte ein schüchternes »Danke« hervor, als sie ihm seine rote Steppjacke abnahm und damit in einem Nebenzimmer verschwand.

Sein Blick erkundete den Raum. Zwei Fenster erhellten die frisch tapezierten Wände. Es roch nach trocknender Farbe, Teile des Parketts waren mit Folie abgeklebt.

»Entschuldige das Chaos«, hörte er Elise aus dem Nebenraum rufen, »Lias ist gerade los und holt neues Deckweiß. Wir renovieren noch, sind erst vor einem Monat eingezogen. Offiziell öffnen wir erst in ein paar Wochen, aber ich gebe schon Probestunden.«

»Verstehe ...« Leo sah sich andächtig um. »Wenn es euch heute nicht passt, können wir uns auch an einem anderen Tag treffen.«

»Auf gar keinen Fall. Am Ende kneifst du noch.«

Sie tauchte im Türrahmen auf und schenkte ihm ein so sonnenhelles Lächeln, dass er abermals nur ein scheues Schmunzeln auf die Lippen brachte. Als er sich bückte, um sich die Schuhe auszuziehen, pfiff sie und winkte ihn stattdessen zu sich ins Nebenzimmer.

Leo knabberte auf seiner Unterlippe, während er ihr folgte. Das Folienknistern unter seinen Sohlen reaktivierte sein schlechtes Gewissen. Eigentlich war er hier, um Elise nach ihrem YouTube-Kanal zu fragen - nicht wegen ihres Unterrichtsangebots.

Der Raum, in den sie ihn führte, war bereits renoviert. Alle vier Wände waren in einer anderen, quietschbunten Farbe gestrichen. Darüber entfalteten sich Notenlinien, die bis über die Decke gezeichnet waren.

»Schick, oder? Lias hat sie gemalt.« Elise stemmte ihre linke Hand in die Hüfte, Stolz klang aus ihrer Stimme. »Mit den Farben hab ich's ein bisschen übertrieben, aber ich wollte, dass jeder gute Laune bekommt, wenn er den Raum betritt.« Ihr Blick schwenkte zu Leo, die Lider verengten sich unter ihrem blühenden Lächeln. »Wie findest du's?«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt