[37] Passacaglia, pt. 2

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🌸 Oster-Special 🌸

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Die Melodie führte Leos Finger wie von Geisterhand über die Tasten. Er hatte keinen Einfluss auf ihren Lauf, keine Kontrolle über die Kraft der Anschläge. Mit zärtlicher Anarchie geleiteten sie ihn bis zur Cadenza.

»Sehr, sehr gut.« Elise löste sanft den Fuß vom Pedal, strich ihm mit einem warmherzigen Schmunzeln über die Schulter. »Lass uns fünf Minuten Pause machen, dann spielen wir es ein letztes Mal von Anfang bis Ende durch.«

»Okay ...«

Leo legte seine Hände auf die Oberschenkel, blinzelte die Erschöpfung aus seinen Augen. Es grenzte an ein Wunder, dass er trotz seiner Übernächtigung vortragstauglich spielen konnte. Aber vielleicht war es genau das, was seinen Platz in der Riege der 18 Kandidaten rechtfertigte. Er war nie der schnellste, sauberste, ausdrucksstärkste Klavierschüler gewesen, doch er hatte sich durch jedes Stück durchgebissen. Seine Hände erinnerten sich an die Schwerstarbeit der vergangenen zwei Wochen. Sie ließen ihn auch im Moment tiefer Schwäche nicht im Stich.

»Du siehst blass aus.« Elise war aufgestanden, um einen Schluck aus ihrer Wasserflasche zu trinken. »Sag bitte, wenn es dir zu viel wird.«

Leo schüttelte den Kopf. »Mir geht's besser. Mach dir keine Gedanken.«

Aus dem Lidwinkel sah er, wie sie die Stirn kräuselte; ihre himmelblauen Augen waren sorgenverhangen. Wahrscheinlich hörte sie heraus, wie mühsam ihm die Zuversicht über die Lippen ging. Aber es half alles nichts. Er musste seine Reserven zusammenkratzen, durfte sich nicht länger zusammengekrümmt unter seiner Bettdecke verkriechen. Nicht nach allem, was er Elise und seinem Partner zugemutet hatte.

»Wie wär's wenn du dich professionell verhältst und zu deinen Entscheidungen stehst? Du bist derjenige, der Mist gebaut hat.«

Leo atmete durch, massierte mit seinen kalten Fingerspitzen seine Schläfen. Auf seinem Kopf lag ein fester Druck, als wäre er bis zum Platzen gefüllt mit Kasimirs Anschuldigungen. Er hatte recht mit allem, was er sagte. Leos Aufgabe bestand darin, ihm zur Seite zu stehen. Stattdessen stieß er ihn von sich weg und überließ ihn seiner zehrenden Wut. Es zermürbte Leo, wie Kasimir ihn ansah, wie er seine Nähe suchte und ständig enttäuscht wurde. Aber er durfte ihn und alles, wofür er sich wochenlang geschunden hatte, nicht gefährden. Auch wenn es Leo genauso wehtat.

»Wartet nicht zu lange, Elise. Ihr habt noch zehn Minuten.«

Leo löste die Finger vom Gesicht und sah zu Elias, der ihre Probe aus der Parkettreihe verfolgte. Er war einer von wenigen Zuhörern, die der freien Probe beiwohnten. Wie Gestrandete auf weißgoldenen Inseln saßen sie verteilt über die Ränge des gewaltigsten Konzertsaales, in dem Leo jemals gespielt hatte; ein Wunderwerk aus Akustik und Licht. Der warme Schein der Deckenleuchten entfaltete sich wie ein Lampionmeer am Firmament, der prachtvolle Klangreflektor im Zentrum über der Bühne funkelte in allen Himmelstönen. Es war, als kannte dieser Ort alle Geheimnisse der Musik, als atmete er ihre Jahrtausende alte Geschichte mit jedem Konzert ein und aus.

»Ist gut.« Elise zeigte ihrem Bruder den Daumen, dann trat sie wieder zum Klavier und fischte eine angerissene Packung Hafergebäck aus ihrer Handtasche, die neben dem Hocker auf dem Boden stand. Als sie sich einen Keks in den Mund schob, reagierte Leos Magen mit einem unruhigen Grummeln. Elise hielt im Kauen inne, Leo senkte schwach schmunzelnd den Blick. Ertappt.

»Willst du einen?«, fragte sie. Leo schüttelte den Kopf.

»Nein, alles gut.«

»Du warst nicht beim Frühstück. Hast du heute überhaupt schon was gegessen?« Als Leo seine Geste wiederholte, hielt sie ihm die halbleere Packung vor die Nase. Er drehte beklommen das Gesicht weg.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt