[10] Poseidon und Hades, pt. 2

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Vor der Garderobe herrschte ein solches Gedränge, dass Kasimirs Brille beschlug, als Leonhard und er das Foyer betraten. Wenn ihm bereits die Studentengruppen vor dem Gebäude Bauchschmerzen bereitet hatten, kam diese Versammlung einem Milzriss gleich.

»Was ist hier los ...?«, raunte er Leonhard durch den Gesprächslärm ins Ohr, nachdem sie sich eingereiht hatten. Er verharrte eng an seiner Seite und zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht.

»Wahnsinn, oder?« Leonhard sah sich staunend um; das Gästeaufkommen schien ihn nicht zu verunsichern. »Hätte nicht gedacht, dass so viele Leute auf den Aufruf reagieren.«

»Welchen Aufruf?«

Eine dunkle Vorahnung kratzte an Kasimirs Fassade, als Leonhard sein Smartphone aus der Jackentasche zog und die Social-Media-App öffnete, über die er seinen Künstleraccount verwaltete.

»Heute Morgen ging dein neuer Clip auf YouTube online, mit einer tollen Resonanz«, erklärte er und zeigte auf einen Post, der seine Abonnenten über das Update informierte. »Sogar Dawid war beeindruckt. Er hat einen Kommentar hinterlassen.«

»Ist mir aufgefallen. Was hat das mit diesem Chaos zu tun?«

»Alles«, antwortete Leonhard und kostete Kasimirs angespannte Miene aus, ehe er fortfuhr. »Er hat die Qualifikation erwähnt, viele User haben daraufhin nachgefragt. Deshalb habe ich deine Follower mit einem kurzen Beitrag auf das Vorspiel aufmerksam gemacht, bevor ich von der Agentur losgefahren bin ...«

Leonhard sprach weiter, doch seine Stimme wurde von scharfem Gelächter verschluckt. Ein zittriger Schauer wanderte durch Kasimirs Körper wie eine Welle kalten Wassers. Die Gespräche verschwammen zu einem Meer aus Wortfetzen; nur vereinzelt brandeten zusammenhängende Satzteile in seinem Ohr.


... schon immer live sehen wollte ...

... wirklich so gut spielt wie in den Videos ...

... fragen, ob er ein Foto mit mir macht ...


Kasimir biss die Backenzähne zusammen, doch sein Herzschlag pfiff auf seine Selbstbeherrschung. Sie redeten über ihn. Obwohl er sich verdeckt hielt, obwohl er keine Aufmerksamkeit erregte – sie war allgegenwärtig. Die zerbrochenen Dialoge schürften über seine Haut wie Eiszapfen, er begann, trotz der drückenden Wärme im Foyer zu frösteln.

»Alles gut?«, fragte Leonhard, als nur noch zwei Pärchen vor ihnen anstanden, und nickte auf Kasimirs Hand. »Deine Finger zittern.«

Verdammt, es geht wieder los.

Kasimirs Puls verdoppelte sich unter Leonhards wachsamen Blick. Der Schweiß legte sich wie Raureif über seine Haut und verschlimmerte das Kälteempfinden, obwohl er innerlich dagegen ankämpfte. Genau wie vor zwei Tagen in der Mensa spielte sein Körper verrückt beim bloßen Gedanken an das, was ihn erwartete.

»Ich h-hab lange draußen gestanden«, erwiderte er darum bemüht, das Beben seiner Stimmbänder im Zaum zu halten. »Vielleicht lasse ich die Jacke noch ein paar Minuten an ...«

»Auf jeden Fall. Du schlotterst richtig«, antwortete Leonhard und griff nach seinen Händen, um sie für einen Moment wärmespendend zu umschließen. Dann nickte er zum Eingang des Konzertsaals. »Geh schon mal rein und wärm dich auf. Ich geb meine Jacke ab und melde dich an.«

»Okay ... danke.«

Kasimirs Herzschlag flachte ab, als er mit gesenktem Blick an den anderen Wartenden vorbei trat. Seine Kapuze schenkte ihm die Freiheit, sich unbehelligt durch den Raum zu bewegen, doch spätestens am Flügel hatte dieses Versteckspiel ein Ende. Bis dahin musste er seine Nervosität in den Griff bekommen.

Vor dem Zugang zum Saal lichteten sich die Reihen und das Stimmengewirr wurde leiser. Zuletzt hatte Kasimir für sein Konzertexamen vor drei Monaten auf dieser Bühne am Steinway gesessen, er kannte die Räumlichkeiten, war vertraut mit der Akustik. Damals waren allerdings kaum mehr als zwanzig Zuhörer zu seinem Vorspiel erschienen.

Heute war das Platzangebot bis zur Kapazitätsgrenze ausgereizt.

Kasimir hielt inne und starrte ins Innere des Saales. Er hatte sich auf eine maximal zweistellige Zuhörerzahl eingestellt. Stattdessen sah er sich mit dem größten Publikum konfrontiert, vor dem er sich jemals präsentiert hatte. Alle dreißig Reihen, nahezu vollbesetzt, gegenüber einem einzigen Flügel. Waren all diese Menschen durch Leonhards Posting auf die Veranstaltung aufmerksam geworden? Waren sie seinetwegen hier?

»Entschuldigung?«

Kasimir zuckte zusammen und wandte sich zu seiner Linken. Sein Blick fiel auf einen knallbunt bedruckten Flyer, der ihm entgegen gereicht wurde. Sofort zischte ihm die Erinnerung an das Gespräch des Pärchens vor dem Gebäude durch den Kopf. Er traute sich kaum, aufzusehen. Das war die junge Frau, die ihn vorhin fast über den Haufen gerannt hatte.

»Keine Angst, ich will dir nichts verkaufen«, sagte sie mit einem warmen, verlegenen Lachen. Sie hatte ihren blauen Anorak abgelegt, trug stattdessen eine Satinbluse derselben Farbe, deren Ärmel bis über ihre Handgelenke reichten. »Nur ein bisschen Werbung in eigener Sache. Ich habe vor einem Monat eine Klavierschule eröffnet und bin auf der Suche ...«

Sie verstummte, als Kasimir ihren Blick zaghaft erwiderte. Die Erkenntnis in ihren himmelblauen Augen lähmte ihn, er konnte sich ihrem Fokus nicht entziehen. Als sie jedoch einen Schritt auf ihn zutrat, wich er zurück und zog sich die Kapuze ins Gesicht. Mit einem Schlag überkam ihn das Gefühl, dass sie ihm direkt ins Herz sehen konnte. Dort, wo seine Angst zu einem dreckigen, modrigen Brocken verklumpte.

»Sag mal, bist du ...«, begann sie, doch Kasimir schüttelte den Kopf. Der Schreck drückte ihm auf den Magen, ihm wurde von einem Moment auf den nächsten übel. Sein Herz begann zu rasen, die Luft glühte in seinen Lungen, die Gespräche um ihn schwollen zu ohrenbetäubender Lautstärke an. Alles engte ihn plötzlich ein, die Wände, der Boden, sein eigener Körper.

»Du bist es, oder?« Die junge Frau beugte sich etwas tiefer, sodass sie unter seine Kapuze lugen konnte. Als sich ein Lächeln über ihre Lippen legte, stockte Kasimir der Atem. »Na klar! Du bist Hasitzky!«

Ihre Stimme zerriss das feine Netz, das seine Furcht zurückhielt. Sie schoss unkontrolliert durch die Maschen und flutete sein Inneres, stieg ihm in Sekundenschnelle bis zum Hals. Er konnte nicht antworten, so fest presste die Panik auf seine Kehle.

»Elise. Lass ihn.«

Das war die tiefe Stimme, die Kasimir bereits vor dem Gebäude ins Mark gegangen war. Der Raucher. Wie das Licht eines Leuchtturms glommen seine Worte in der Ferne, während Kasimir auf stürmischer See um sein Leben kämpfte. Der Boden unter seinen Füßen war haltlos wie aufgepeitschter Meeressand, er schlingerte auf taubem Grund und schluckte so viel Salzwasser, dass ihm der Ekel fast die Besinnung raubte.

Du musst weg hier. Lauf weg!

Kasimirs Angstzentrum übernahm die Kontrolle über seinen Körper. Er wandte sich ab und preschte los. Lauf, lauf, dröhnte es in seinem Kopf, während er sich durch die eng stehenden Menschen drängte. Seine Hand schnellte an seinen Mund, alles drehte sich; er konnte kaum mehr geradeaus sehen, so schlecht war ihm. Nur die Angst trieb ihn voran.

Die Angst, in dieser Hölle zu ertrinken.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt