Kasimir klammerte die zittrigen Finger um seine Krawatte. Als ein Rucken durch seinen Körper ging, zog er sie zurück und hustete in die Kloschüssel. Sein Magen rebellierte, als hätte er ihm Gift zugeführt; die Übelkeit schnürte sich wie Stacheldraht um seine Kehle.
Nachdem er eine weitere Welle überstanden hatte, ging er vor der Toilette auf die Knie und drückte seine pochende Stirn gegen die Keramik. Sein Brustkorb hob und senkte sich stoßweise, seine Augen tränten vor Erschöpfung. Es war ein widerwärtiges Gefühl, das ihn an den Fliesenboden dieser Kabine fesselte, doch er kam nicht auf die Beine. Dieser Ort war wie ein morsches Bretterfloß, auf dem er schwindelnd durch die Gischt schaukelte, und er hatte keine Ahnung, wie lange es ihnen noch standhielt.
Als er ein Brummen in seiner Hosentasche spürte, lehnte er sich schwer atmend mit dem Rücken gegen die Kabinenwand und zog sein Smartphone hervor. Drei entgangene Anrufe von Leonhard. Mit Sicherheit fragte er sich, wo Kasimir abgeblieben war. Wieso er nicht im Konzertsaal wartete. Auf seinen großen Auftritt.
Erneut wallte Übelkeit in seiner Kehle auf, und er quälte sich wieder über die Toilettenschüssel. Was für ein erbärmliches Bild er abgeben musste, der ›Starpianist‹, für den all diese Menschen an der Veranstaltung teilnahmen. Er würgte sich die Seele aus dem Leib und bibberte wie ein Kaninchen, dem gleich das Fell abgezogen wurde. Wenn sie wüssten, wer Hasitzky wirklich war, würden sie sich für ihre Bewunderung schämen.
Das Klacken der Badtür ließ Kasimir zusammenzucken. Er hörte Schritte, die sich näherten. Er schluckte seinen Ekel herunter und regte sich nicht, als sie neben seinem Versteck verstummten. Unwillkürlich fokussierte er die Klinke der Kabinentür. Er hatte es nicht geschafft, sie abzuschließen, als er hineingestolpert war. Blieb zu hoffen, dass der Kerl bloß ans Pissoir wollte.
Kasimir atmete flach und gab keinen Mucks von sich, während er den Türspalt im Blick behielt. Dahinter fiel ein Schatten auf die Fliesen; wer auch immer das Bad betreten hatte, stand unmittelbar vor der Kabine. Er rührte sich nicht, sagte nichts. Beinahe, als würde er warten.
Geh weg, verdammt noch mal.
Kasimir drückte sich die Faust auf den Mund und presste die Lider zusammen, während sich eine neue Übelkeitswelle in seinem Magen aufbäumte. Wenn nur irgendein Geräusch diese quälende Lautlosigkeit beenden würde. Das Zurren eines Reißverschlusses, seinetwegen auch das Plätschern in der Sanitärkeramik. Da war nichts als Stille; eine Flaute vor der nahenden Gewitterfront. Sobald sie über seinem Ozean hereinbrach, würde sein Floß in Seenot geraten. Doch er wollte nicht kentern. Er wollte nicht hier untergehen.
»Hasitzky«, drang es ruhig durch die geschlossene Tür. Kasimir öffnete die Augen. Das grelle Licht der Neonleuchte an der Decke blendete ihn, doch der kurze Stich war nichts verglichen mit dem Schreck, der durch sein Herz schoss. Die Worte hallten dumpf an den Wandfliesen wider, schoben sich durch den Kabinenspalt und prasselten auf ihn ein. Diese Stimme, dieser Klang.
Das war die Tiefsee.
»Ich heiße Elias«, fuhr der Wartende vor der Tür fort. Die Ruhe, die seine Worte färbte, zeichnete ein Bild in Kasimirs Fantasie. Gesichtszüge, schroff wie Küstenfelsen. Dunkle, windgepeitschte Strähnen. Abyssblaue Augen. »Meine Schwester hat dich eben im Foyer angesprochen. Es tut ihr leid, dass sie dich erschreckt hat. Sie macht sich Sorgen und hat mich gebeten, nach dir zu sehen.«
Die Sätze verrauschten in dem Strudel, der Kasimirs Wahrnehmung durchströmte. Als jedoch ein Klopfen durch die Tür drang, zischten sie wie ein Torpedo in sein Herz und setzten Panik darin frei.
»Ist alles in Ordnung? Wenn es dir nicht gut geht, kann ich dir helfen. Die Tür ist nicht abgeschlossen ...«
Nein! Nein, geh weg!
Kasimirs Puls schoss in die Höhe, das Bild vor seinen Augen begann zu flimmern. Er krallte sich an sein Floß, hielt den Worten stand, die unaufhörlich in die Segel peitschten; versuchte, sich auf den Planken zu halten.
Plötzlich bebte die Klinke, als hätte Elias von außen die Hand darauf gelegt. In Kasimirs Brust zog sich alles zusammen, seine Angst schwappte über. Er beugte sich ruckhaft über die Klobrille und begann, zu keuchen. Seine Atmung war blockiert, der Druck auf seiner Brust unerträglich. Sein Floß brach entzwei, er klammerte sich verzweifelt an die Wrackteile, doch die Strömung riss an seinem Körper.
Aus dem Augenwinkel sah er verschwommen, wie die Tür aufgeschoben wurde und jemandem Zutritt verschaffte. Obwohl die Übelkeit seine Sinne zersetzte, erkannte er den faden Geruch von Zigarettenqualm. Als Nächstes nahm er eine Berührung an der Schulter wahr, spürte, wie er leicht zurückgedrückt wurde, bis sein Rücken an der Kabinenwand Halt fand. Schließlich sah er ein Gesicht vor sich. Hohe Wangenknochen, ein heller Teint, inmitten dieser Blässe dunkelblaue Augen.
»Ganz ruhig.«
Die Worte überwanden Kasimirs schwere Atemzüge, flossen in seinen Gehörgang, schäumten in sein Herz. Sie linderten die qualvollen Impulse, bis es seinen Rhythmus wiederfand. Seine Schultern zitterten und seine Lungen waren schwer wie Bleigewichte, doch er fühlte sich nicht mehr wie kurz vor dem Ertrinken. Es war, als würde sein Kopf über Wasser gehalten, als würde er an Land gezogen von dieser Stimme.
»Gut so«, flüsterte Elias, strich ihm mit dem Daumen über die pochende Stirn. »Atme weiter, schließ die Augen. Du bist in Sicherheit. Dir passiert nichts.«
Seine Worte waren wie Mantren, die Kasimirs Bewusstsein aus der Düsternis führten. Er folgte seiner Aufforderung, holte tief Luft und entließ sie wieder, ohne einen Ton über die Lippen zu bringen. Er hatte Angst, dass das Salzwasser wieder in seinen Mund drang, sobald er ihn öffnete.
»Kannst du dich aufsetzen?«, fragte Elias nach einer Weile und half ihm, sich geradezurichten. Mit jeder verstreichenden Sekunde erreichte mehr Sauerstoff Kasimirs Lungen, sein Keuchen flachte ab.
»Leo ...«, presste er hervor, hielt sich an Elias' Oberarm, bis er den Schwindel vor seinen Augen im Griff hatte. »Das Vorspiel ... i-ich muss ...«
»Du musst nichts.«
Die Entschiedenheit in Elias' Stimme ließ Kasimirs Atem erneut stocken, doch dieses Mal war die Blockade nicht unangenehm. Sie lockerte den Druck, öffnete eine Schneise in dem Meer, das ihn zu verschlingen drohte.
»Bleib ruhig sitzen und atme«, beharrte Elias und richtete sachte den Bügel von Kasimirs Brille, der ihm während des Anfalls übers Ohr gerutscht war. »Sag mir, wenn du etwas brauchst. Ich kann dir ein Glas Wasser bringen.«
Er wollte sich aufstützen, doch Kasimir griff nach seinem Hemdärmel. Er konnte den Reflex nicht beeinflussen, wollte bloß, dass er blieb. Er wollte nicht wieder aufs Meer hinausgetrieben werden.
»Du erwähntest gerade Leo. Ist das deine Begleitung?«, fragte Elias. Als Kasimir schwach nickte, sah er zur Tür. »Soll ich ihn holen?«
Kasimir schwenkte den Kopf. Vollkommen gleich, wie sehr er es sich in diesem Moment wünschte, Leonhard durfte ihn auf keinen Fall in diesem Zustand sehen. Er würde jeglichen Glauben in ihn verlieren.
»Kein Wort ... zu ihm ...«, brachte er hervor, ehe ihm erneut die Stimme versagte. Verdammt, warum war er so schwach? Er war nicht weit vom rettenden Ufer entfernt. Warum schaffte er es nicht, an Land zu kriechen?
»Niemand erfährt irgendetwas von mir«, versicherte Elias und hielt inne, sah Kasimir in die Augen. Es war, als spiegelte sich das Meer darin, gefärbt vom klaren Himmel. Das Zittern in Kasimirs Fingern ließ unter dem Blickkontakt nach, sein Herz beruhigte sich. Als wäre das Wasser, das ihn soeben beinahe umgebracht hätte, in diesen Augen friedlich.
Als wären sie sein Anker im endlosen Ozean.
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All Eyes On Us [3]
Romance🎼 Abschlussband der Reihe "All Eyes On Me"! 🎼 *abgeschlossen* #leomir 🐰🏳️🌈🩷 [Achtung - SPOILER für Band 1 & 2] . . . Kasimir und Leo haben sich für eine gemeinsame Zukunft entschieden. Als sein Agent setzt Leo alles daran, die Musik seines Fre...