[63] Polka, pt. 2

72 14 2
                                    

Leo ließ die Beine über die Uferbefestigung des Vilette-Kanals baumeln. Die abendliche Flussbrise strich um seine Schultern, kühlte sein Gesicht. Er betrachtete das Treiben in der Bar auf der gegenüberliegenden Kanalseite, hörte die Bässe der Musikanlage, als wären sie kilometerweit entfernt. Paris strahlte so hell, dass kein Stern am Nachthimmel glänzte.

Er lehnte sich zurück in die Wiese. Sein Herz beruhigte sich unter dem ruhigen Fluss des Wassers, Müdigkeit legte sich über seine Lider. Die nächsten Tage würden anstrengend werden. Tägliche Proben in der Philharmonie, technische Absprachen rund um den Auftritt, Pressetermine. Vermutlich würde er kaum Zeit haben, um durchzuatmen. Hoffentlich auch nicht zum Grübeln.

»Hier bist du.«

Als Leo die Lider öffnete, ließ Elise sich gerade neben ihm nieder. Seufzend richtete er sich auf und klopfte sich den Straßenschmutz vom Jackett. Er war dankbar, dass sie ihm Blickkontakt ersparte.

»Tut mir leid. Hab' mich verlaufen und irgendwo hingesetzt.«

»Macht doch nichts. Ist schön hier draußen.« Elise sah hinüber zur bunt erleuchteten Bar. Ein Schmunzeln lag auf ihren Lippen. »Francesca hat mir Isabella vorgestellt. Sie ist wirklich nett.«

»Glaube ich ... sorry, dass ich einfach abgehauen bin. War Franna sauer?«

Elise schüttelte den Kopf. »Ich denke, sie hat mit sich gehadert. Sie hat immer wieder zur Tür gesehen. Ihr kennt euch lange, nicht?«

»Seit ich denken kann.« Leo schmunzelte in sich hinein. »Ich war jahrelang verknallt in sie. Bevor ich ...«

Er geriet ins Stocken, die nostalgischen Bilder vor seinen Augen verschwammen. Wichen einer Dunkelheit, die ihm aufs Herz drückte.

»Bevor du Kasimir getroffen hast?«, vollendete Elise und sah wieder auf den Kanal, nachdem er unmerklich genickt hatte. »Francesca hat nicht viel für ihn übrig, oder?«

»Nein ... ich meine, doch, sie ...« Leo presste die Lippen aufeinander, betrachtete die Spiegelungen im Wasser. »Sie macht sich andauernd Sorgen um mich. Wenn's mir mies geht, sucht sie einen Schuldigen. Meistens ihn.«

»Zurecht?«

»Nein ...« Leo atmete seufzend aus, ließ sein Kinn auf die Brust sinken. »Kasi hat sich mir gegenüber früher nicht geöffnet. Aber ich habe mich genauso vor ihm verstellt. Schätze, wir leben immer noch aneinander vorbei.«

Unwillkürlich suchte er Elises Blick. In ihren Augen lag Ruhe, die ihm Geborgenheit vermittelte. Ihm Worte zugestand, die seit langem in seiner Seele brannten.

»Weißt du ... es fällt mir schwer, mit ihm über mich zu reden. Was ich mag, was ich mir wünsche. Stattdessen dränge ich ihn in eine Richtung, die mir etwas bedeutet, aber ihm nicht. Natürlich wird er wütend. Natürlich versteht er nicht, wieso.« Leo fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich glaube, er hat sich alleingelassen gefühlt. Ich hab ihn ermutigt, an diesem Wettbewerb teilzunehmen, und war nicht für ihn da, als er mich gebraucht hat.«

»Du konntest nicht, Leo. Es ging dir schrecklich.«

»Ja ... aber ihm auch.«

Leo schloss die Augen, legte die Hand an die Stirn. »Er hat sich verbogen, und ich hab's nicht gemerkt. Ich habe einfach angenommen, dass all das für ihn genauso aufregend ist wie für mich. Dabei habe ich immer gesagt, dass ich den Menschen liebe, der er ist. Aber genau diesen Menschen habe ich ignoriert ...«

Der aufkeimende Frust belegte seine Stimme. Er konnte kaum in Worte fassen, wie sehr er sich über seine Blindheit ärgerte. Wie leid es ihm tat, Kasimir in die Enge getrieben zu haben.

»Er muss das alles allein ausbaden. Den Hass, die Vorwürfe, die Demütigung. Schon wieder bin ich nicht bei ihm ...«

Elise legte ihm die Hand an die Schulter. »Er ist nicht allein. Er ist bei seiner Familie. Ich bin mir sicher, dass ihm der Abstand guttut.«

»Ja, vielleicht, aber ...«

... mir nicht.

Leo schluckte die Worte herunter, der Druck auf seinen Kehlkopf verdoppelte sich. Es waren selbstsüchtige Gedanken, doch er konnte sie nicht abstellen. Anstatt froh zu sein, dass Kasimir sich an sein Kontaktverbot hielt, zerrte Ungewissheit an Leos Nerven. Er hatte keine Ahnung, wie es ihm ging. Er hatte ihn während des Telefonats nicht einmal gefragt.

»Es hilft nichts, wenn du dir Vorwürfe machst«, fuhr Elise fort, streichelte ihm über den Rücken. Leo schüttelte abwehrend den Kopf.

»Das hätte alles nicht passieren müssen. Wenn ich aufrichtig mit ihm gesprochen hätte. Wenn ich ihm nicht meine Träume aufgedrückt hätte ...«

»Zu einem Kommunikationsproblem gehören immer zwei, Leo.«

»Ja, aber ...« Leo hob den Blick zum Himmel, blinzelte sich die Feuchtigkeit aus den Augen. »Er wollte einfach nur mit mir zusammen sein. Nichts weiter.«

»Warum glaubst du, dass sich daran etwas geändert hat?«

Elises Stimme klang zuversichtlich. Während er seinen Kopf im Sand vergrub, blickte sie nach vorn. Leo biss die Backenzähne zusammen, schluckte den Kloß herunter und brachte zumindest ein Wispern zustande.

»Was, wenn Franna recht hat? Wenn wir in Trennung liegen ...?«

»Fühlt es sich für dich so an?«

»Nein ...«

»Glaubst du, dass Kasimir nicht mehr mit dir zusammen sein will?«

Leo schüttelte den Kopf, atmete flach ein. »Aber er ist so weit weg und ... u-und ich bin hier. Ich vermiss' ihn. Ich vermiss' ihn jede dämliche Sekunde ...«

Seine Stimme erstickte, und er vergrub das Gesicht in seinen Händen. Nur einen Moment später spürte er Elises Hand auf seiner Schulter, nahm wahr, wie sie ihn an sich drückte. Leo lehnte sich in ihre Umarmung, gab seinen Gefühlen nach. Sie zwängten Tränen in seine Augen, die er wochenlang zurückgehalten hatte. Aber er konnte nicht mehr. Er konnte das alles nicht mehr.

»Leo. Willst du zu ihm?«

Elise streichelte ihm über die Schulterblätter. Er wollte ihr antworten, doch der Druck auf seine Kehle war zu groß. Die Tränen flossen, er drückte sich fester an Elise.

»Wir können zurücktreten. Dann kannst du ihn sofort sehen. Du brauchst es nur zu sagen.«

»Nein, i-ich ... unser Auftritt. Ich will mit dir auftreten ...«

»Was ist wichtiger? Ein Vorspiel oder deine Beziehung?«

Elise drückte ihn sanft zurück. Seine Augen glühten, er sah ihr Gesicht nur verschwommen vor sich. Doch der Ausdruck in ihren Augen war aufrichtig. Ohne jeden Zweifel.

»Das ist dein Leben, Leo. Du bist niemandem diesen Auftritt schuldig. Nicht mir, nicht Francesca. Niemandem.«

»Ich weiß, aber ...« Leo rieb sich mit dem Ärmel über die laufende Nase, blinzelte. »Ich möchte spielen. Mit dir. I-ich will nicht, dass alles umsonst war ...«

»Nichts war umsonst, wenn du am Ende glücklich bist.« Elise drückte seine Schulter fester. Sie meinte ihre Worte ernst, war bereit, in voller Fahrt die Bremse zu ziehen. Sie wartete bloß darauf, dass er nach dem Hebel griff.

»Nein«, sagte er, legte seine Handflächen auf sein warmes Gesicht, atmete tief durch. »Ich will das. Es sind nur ein paar Tage. Danach kann ich alles in Ordnung bringen, aber ... dieser Auftritt gehört uns. Dir und mir.«

Seine Stimme gewann an Kraft, das Ziehen in seinem Hals ließ nach. Als hätten die Tränen einen Teil seines Kummers herausgewaschen, Platz geschaffen für eine dünne Schicht Mut.

»Wenn du dir sicher bist«, sagte Elise und strich ihm sanft über die Wange, verwischte eine verirrte Träne. Sie klang nicht überzeugt, doch sie respektierte seine Entscheidung. Der Hauch von Zuversicht auf ihren Lippen war Beweis genug. »Dann lass uns den Auftritt unseres Lebens hinlegen.«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt