[9] Poseidon und Hades, pt. 1

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Die Schneereste vor dem Konzertsaal der Universität funkelten in der Frühlingssonne, als Kasimir aus der Straßenbahn stieg und in den Himmel blinzelte. Es war wolkenlos, trocken und nicht zu kalt. Fast so, als hätte sich das Wetter für den Tag des Qualifikationsvorspiels fein gemacht.

Er atmete tief durch und trat über den Vorplatz auf das Gebäude zu. Sein Herz pochte, während er die Menschenansammlung überblickte. Unzählige Studenten in Ausgehrobe tummelten sich vor dem Eingang. Einige Gesichter kannte Kasimir; Kommilitonen, die sich vermutlich ebenfalls beim Vorspielen beweisen wollten. Eigentlich sollte es ihn beruhigen, dass er sich nicht allein dem Auswahlgremium stellte. Aber warum lungerte die halbe Fakultät vor der Tür?

Kasimir zog sich die Kapuze seiner schwarzen Winterjacke ins Gesicht; die Nervosität hielt seinen Brustkorb im Klammergriff. Noch vor einem Jahr hätte ihm dieses Publikumsaufkommen weniger Bauchschmerzen bereitet, doch dank Leonhards offensivem Marketing konnte er sich nicht mehr hinter seiner Anonymität verstecken. Hasitzky war zum Internetphänomen geworden, seine Musik populär genug, um Konzertsäle zu füllen. Und entsprechend hoch waren die Erwartungen an den Menschen dahinter.

Etwas abseits des Trubels ließ er sich auf eine Steinstufe sinken und zog sein Smartphone aus der Hosentasche. Bis auf einen älteren Studenten, der mit einer Kippe an der Institutsfassade lehnte, hielt sich niemand im direkten Umfeld auf. Gut so. Kasimir würde in seinem Nikotinbannkreis ausharren, bis Leonhard eintraf. Vielleicht schrieb er in der Zwischenzeit seine Schwester an, ein wenig Zuspruch tat seinem Stresslevel gut. Und wenn das nicht half, könnte er diesen Kerl neben sich nach einer Zigarette ...

Stopp. Denk nicht mal daran.

Kasimir biss sich auf die Unterlippe. Seit einem Jahr war er rauchfrei, er durfte diesen Erfolg nicht für ein paar Minuten toxischen Seelenfrieden aufs Spiel setzen. Völlig egal, wie aufgeregt er war, er hatte Leonhard versprochen, seine Lungen nie wieder mutwillig mit Giftstoffen zu strafen. Seine neuerlichen Atemprobleme bekräftigten diesen Schwur, und er würde den Teufel tun, vor all diesen Menschen seinen verdrängten Gelüsten zu frönen. Er würde durchhalten. Auch wenn ihm der Qualm die Gedanken verdrehte.

Als er in der Hoffnung auf Zerstreuung durch die Benachrichtigungen seines YouTube-Channels scrollte, fiel ihm auf, dass Cecilie offenbar ein neues Video hochgeladen hatte. Die Aufnahme von Chopins sechzehntem Prélude, das Kasimir in Vorbereitung auf den heutigen Tag eingespielt hatte. Der Clip war erst knapp zwei Stunden online, dennoch häuften sich bereits begeisterte Kommentare. Einer davon stach Kasimir ins Auge.

›58 Sekunden? Wenn du die Zeit bei der Quali nicht unterbietest, kannst du knicken, dass du in der Hauptshow gegen mich ankommst, Hasi ... Drück dir die Pfoten‹

Kasimir verzog den Mund. Dawids Kommentar hatte fast eintausend Likes und unzählige Antworten. Kaum zu glauben, dass es diesem Kerl selbst aus der Ferne gelang, ihn vorzuführen.

»Elias!«

Kasimir zuckte zusammen, als eine junge Frau so nah an ihm vorbeilief, dass sie beinahe über seine Schuhe stolperte. Er senkte den Kopf tiefer über sein Smartphone und beobachtete aus dem Sichtwinkel seiner Kapuze, wie sie auf den Raucher zuhielt und sich außer Puste mit der linken Hand auf ihren Oberschenkel stützte. Sie trug einen übergroßen Anorak und gelb-gestreifte Overknees, darüber einen azurblauen Leinenrock, der sich mit dem Ton ihrer Jacke biss. Die Unvereinbarkeit der Farben machte Leonhards verschrobenem Kleidungsstil Konkurrenz.

»Tut mir leid ... für die Verspätung ...«, keuchte sie und richtete sich auf. Ihre dunklen Locken wippten bei jedem Atemzug. »Ich wollte ... die Flyer abholen, aber ...«

»Sie waren schon abgeholt«, vollendete der Raucher und schmunzelte leicht. Der Klang seiner Stimme jagte Kasimir einen Schauer um die Schultern. So ruhig und tief, als dränge sie vom Meeresgrund an die Wasseroberfläche. Er warf seine Kippe aufs Pflaster, trat sie aus und ließ sie in einer kleinen Metallbox in seiner Manteltasche verschwinden, dann zog er einen Packen Flugblätter hervor. Die Lippen seiner Gesprächspartnerin verzogen sich zu einem Schmollen.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt