[27] Cynosure, pt. 2

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Leo tastete sich vorsichtig am Geländer entlang und fluchte leise, nachdem er zum dritten Mal über eine Stufe gestolpert war. Er hatte keine Ahnung, warum ausgerechnet heute die Treppenhausbeleuchtung den Geist aufgab, aber es passte zu seiner Lage. Noch bot ihm die Dunkelheit Schutz vor dem drohenden Konflikt. Sobald er jedoch den Fußabtreter der Wohnung erreichte, war seine Schonfrist vorbei.

»Bitte sprich mit Kasimir. Ich tue das nur mit seinem Einverständnis, okay?«

Elises Worte schwirrten seit dem Telefonat durch Leos Kopf. Er kaute nervös auf seiner Unterlippe herum, als er die dritte Etage erreichte.

Was, wenn Kasimir nicht einverstanden war?

Leo wusste, wie sehr sich sein Freund in das Projekt hinein gekniet hatte, und er war sich sicher, dass ihn sein Vorschlag verletzte. Aber es gab keine Alternative, er musste dieses Risiko eingehen. Zum Wohle seines Freundes, der Agentur. Und für sich selbst.

Er atmete tief durch, ehe er den Schlüssel nach mehreren Fehlversuchen endlich ins Schloss steckte. Die Finsternis befeuerte seine Nervosität. Daran änderte sich nichts, als er die Wohnung betrat, auch hier brannte kein Licht.

»Kasi ...?«, fragte Leo ins schwarze Nichts. War sein Freund noch nicht zu Hause? Er hätte schwören können, dass er von der Straße aus im Wohnzimmerfenster ein buntes Glimmen gesehen hatte.

Leo suchte nach dem Lichtschalter, fühlte jedoch einen rauen Widerstand darüber und hielt verwirrt inne. War das Klebeband?

Vorsichtig schlüpfte er aus seinen Schuhen und tastete sich über die Flurwand zur geschlossenen Wohnzimmertür. Allmählich wurde ihm unheimlich. Er umklammerte die Klinke wie einen Schwertgriff, schob die Tür langsam nach innen auf.

»Kasi, wenn ich gleich in irgendwas Glitschiges trete, kriegst du richtig ...«

Leo stoppte mitten im Satz, als der warme Schein dutzender Teelichter die Finsternis erleuchtete. Auf dem Couchtisch, im Fensterbrett, auf dem Fußboden - überall flackerten kleine Kerzenflammen und tauchten den Raum in rotgoldenes Licht. Die bloße Atmosphäre machte Leo sprachlos. Und als sein Blick am Klavier haften blieb, verlor er sich völlig in diesem unwirklichen Gemälde.

Vor dem Instrument saß Kasimir im schwarzen Anzug, geschniegelt bis in die Haarspitzen, und sah in seine Richtung. Das Licht der tanzenden Flammen brachte den Samtbesatz seines Revers zum Schimmern, spiegelte sich in seinen auf Hochglanz polierten Budapestern. Allein die grüne Schleife mit Hasenmotiv, die sich um seinen mitternachtsblauen Kragen wand, verlieh diesem Traumbild ein Stück Realität.

Leo öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er wusste nicht, was er sagen sollte, ob Worte diesen Moment stören durften. Aber Kasimir erwartete nichts dergleichen. Er nickte auf einen Stuhl, der in der Raummitte platziert worden war. Genau an dem Punkt, von dem aus man die beste Sicht auf das Klavier hatte.

Leos Herzfrequenz stieg sprunghaft an. Seine Gedanken verglühten im samtigen Kerzenlicht; er schlich zu dem Stuhl, ließ sich achtsam darauf nieder. Es war ein gewöhnliches Kiefernholzfabrikat, doch in dieser Atmosphäre fühlte es sich an wie ein kashmirgepolsterter Thron. Während er zaghaft die Hände über dem Schoß faltete, legte Kasimir die Finger auf die Klaviatur. Leo atmete flacher, der bloße Anblick seines geraden Rückens und elegant zurückgekämmten Haars drückte ein Flimmern in seinen Bauch. Es lag eine solche Anspannung in der Luft, dass er es nicht wagte, sich zu rühren.

Doch als Kasimir die erste Taste berührte, barst sie mit einem Blitzschlag in eintausend bunte Funken.

Leo krallte sich ins Sitzpolster, während die Tastenlichter des Klaviers wie Sonnenwind über die Decke flammten. Die Noten durchbrachen die Stille wie ein Meteoritenschauer, verwandelten den Raum in eine Nachtblumenwiese. Die Blüten lumineszierten im Lichtschweif der Materie, erwachten aus ihrem traumverlorenen Schlummer. Die Wiese begann zu leuchten, wüstenrot, sternensilbern, meergrün. Die Blumenstängel wiegten im Hauch des kosmischen Winds, fügten sich der Willkür des Universums.

Fügten sich seinen Fingern.

Sie preschten, tänzelten, flackerten über die Klaviatur wie Wetterleuchten, hinterließen flüssiges Gold aus Rhythmus und Harmonie. Kasimir beherrschte das Spiel mit dem Himmelsfeuer, sandte es in die Tiefen des Alls. Er erkundete die Erde, den Mond, den Jupiter, alles allein mit der Kraft und Agilität seiner Hände. Und er tat es, ohne ein einziges Mal mit der Wimper zu zucken.

Leo schluckte, sein Herz klopfte wie verrückt. Sein ganzer Körper kribbelte unter der Wucht des Liedes, sein Bewusstsein driftete in die Schwerelosigkeit. Er atmete, doch der Sauerstoff erreichte seinen Kopf nicht mehr. Jeder Gedanke wurde getilgt von diesem gleißenden Licht, verlor sich in einem Labyrinth aus Notenblüten und Feuer.

Was er sah, hörte, spürte, war die ergreifendste Erfahrung, die seinen Körper je durchströmt hatte.

Mit feinen Triolen verblassten die Kometen am Firmament. Die Blumen neigten sich unter dem funkelnden Sternenzelt und verbargen ihren Blütenstand in Dunkelheit. Die Polarlichter zogen weiter, lösten sich von den Klängen der Klaviertasten. Und dann brach die Nacht wieder über der Leuchtfeuerwiese herein. Das Portal in die endlosen Weiten des Weltalls schloss sich.

Alles wurde schwarz und still.

Leo hörte das Pochen seines Herzens in den Ohren. Es war das einzige Geräusch, das ihm Lebendigkeit vermittelte. Er fühlte sich eingeschlossen in einer düsterbunten Fantasie, einem Dornenschloss melodischer Architektur. Womöglich bildete er sich bloß ein, wie Kasimir sich erhob und langsam auf ihn zutrat. Die Kontur seines Körpers, der Duft, der seine vom Kerzenlicht ummantelte Silhouette umspielte - all das wirkte wie eine sehnsüchtige Illusion. Erst, als Kasimir vor ihm innehielt und auf ihn herabsah, spürte Leo seine Wahrhaftigkeit als Taktschlag in der Brust, als Rauschen in den Ohren. Als ungestümes Drängen in seinem Bauch.

»Cynosure«, flüsterte Kasimir. Seine Mimik war unbewegt, seine Stimme nicht mehr als ein Hauch. Und doch zerschnitt ihr feiner Klang den Faden, der Leos Verstand mit seiner Selbstbeherrschung verband.

Seine Hand schnellte an Kasimirs Revers, ruckte mit solch einer Vehemenz daran, dass sein Freund in seinen Schoß stolperte. Er ließ nicht los, zog Kasimir an sich, bis seine Lippen ihr Ziel fanden. Leo übersprang die Anstandsromantik, drückte Kasimir am Hinterkopf fester an seinen Mund, biss ihn in die Unterlippe, gab seiner Zunge uneingeschränkte Freiheit. Es dauerte keinen Atemzug, bis Kasimir seine Lust erwiderte. Er nahm seine Sehnsucht in der Geschmeidigkeit seines Kusses wahr, der Härte zwischen seinen Beinen. Und er wusste, dass nichts den Meteoriteneinschlag, den Kasimirs Komposition verursacht hatte, aufhalten konnte.

Leo löste sich von Kasimirs Lippen und drückte das Kinn gegen seine Schulter, lehnte sich direkt vor seine Ohrmuscheln.

»Ich will dich«, wisperte er, sein Atem brannte in der Kehle. Er schloss die Augen. Seine Brust zersprang gleich. »Jetzt sofort.«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt