[6] Matinée, pt. 3

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Es existierten zwei Dinge, die Kasimir am Klavierspiel faszinierten. Die Kunst, ein lebloses Objekt durch die Berührung seiner Fingerkuppen zum Atmen zu bringen, und die Resonanz, die dieser flüchtige Kontakt in der Seele hervorrief. Noten waren Formeln, um Emotionen zu beschwören, Lieder ganze Zaubersprüche, die den härtesten Kern erweichten. Kasimir liebte es, seinen Fingern diese Magie zu entlocken. Weil ein Mensch existierte, der jeden noch so kleinen Funken, den er tanzen ließ, zum Feuersturm aufwertete. Die goldene Wärme in seinen Augen hatte Kasimirs Eintönigkeit fort gewaschen und ein Gefühl in sein Herz gedrückt, das ihn tiefer ergriff als jeder magische Schwur. Sie hatte die Melodie seiner Seele umgeschrieben, und er liebte ihren neuen Klang.

»Mann, bin ich erledigt ...«, seufzte Leonhard und ließ sich in seiner neongrünen Steppjacke ermattet auf die Couchpolster fallen. »Hätte nicht gedacht, dass ich mich so ins Nirvana quassele. Tut mir leid, dir raucht bestimmt der Schädel.«

»Schon gut. Du solltest dich bei der Kassiererin entschuldigen.«

Kasimir verstaute die Lebensmittel, die sie auf dem Heimweg von der Agentur eingekauft hatten, in den Kühlschrankfächern. Tatsächlich hatte Leonhard beinahe ununterbrochen geredet und sich nicht einmal vom Bezahlvorgang an der Kasse aus dem Konzept bringen lassen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sein Freund schmunzelnd die Hände im Nacken verschränkte, sein Blick ging versonnen zur Decke.

»Steigere ich mich zu sehr rein?«, fragte er.

»Nein«, murmelte Kasimir, während er die Joghurtbecher einsortierte. »Du freust dich eben.«

»Stimmt. Und du?« Leonhard nahm eine einsame Fliege an der Decke mit dem Zeigefinger ins Visier. »Die Pianovision, das Vorspielen ... du sagst gar nichts dazu. Wie denkst du darüber?«

»Keine Ahnung ... klingt nach 'ner ziemlich großen Show.«

»Oh ja, die größte, die die Branche zu bieten hat. Diese Bühne übertrifft alle deine bisherigen Konzertvorspiele ...«

Noch während Leonhard sprach, wanderte ein zittriger Schauer durch Kasimirs Brust. Er schloss die Kühlschranktür, lehnte sich mit der Schulter dagegen und rieb wärmend die Hände ineinander, doch die Kälte blieb und streute bis in seinen Bauch. Eigenartig. Es fühlte sich an, als käme sie von innen.

»... bereit bist, Kasi?«

»Hm?«, machte er und sah zu Leonhard. Der gab soeben einen imaginären Schuss auf die Fliege an der Decke ab und ging anschließend dazu über, sich aus seiner Winterjacke zu schälen.

»Du stehst ein bisschen neben dir, oder?«

»Nein, wieso?«

Leonhard lachte leise, während er einhändig mit seinem klemmenden Reißverschluss kämpfte. »Komm schon. Ich merke, dass dich die Nummer nervös macht. Janas Ansprache hat selbst mich schlucken lassen.«

»Das ist es nicht ...«

Kasimir löste sich von der Kühlschranktür, trat aus der offenen Küche in den Wohnbereich und kniete sich vor das Sofapolster, um Leonhard aus der Jacke zu helfen.

»Was dann?«

»Ich bin nicht sicher, ob ich der Richtige dafür bin.«

»Im Ernst?« Leonhard stemmte sich auf die Unterarme und sah ihm in die Augen. »Kasi, deine Videos begeistern die gesamte Community, du hast fast eine halbe Million Follower. Außerdem ist die Jury auf dich zugekommen. Die Einladung basiert auf deiner Leistung.«

»Ja, aber ...« Kasimir seufzte, da sich der Verschlussschlitten im Innenfutter der Jacke verhakt hatte und nicht mehr auf sein Rucken reagierte. »Du weißt, wie ich bin. Was ich auf der Bühne leisten kann ...«

... und was nicht.

Anspannung schnürte sich um Kasimirs Selbstsicherheit und quetschte sie zusammen. Er wusste, dass er Klavier spielen konnte, dass sein Spiel Menschen berühren konnte.

Sein Spiel. Nicht er.

»Hey ...« Leonhard strich ihm achtsam mit der Fingerbeuge über die Wange. »Was macht dir Sorgen?«

Dass diese Bühne zu groß für mich ist.

»Wir können über alles reden, Kasi. Was verunsichert dich?«

Dass ich deine Hoffnungen nicht erfüllen kann.

Kasimir antwortete nicht. Seine Lider senkten sich unter Leonhards Berührung, er lehnte den Kopf gegen seine Brust. Die Zweifel lagen verschlossen hinter seinen Lippen, er ließ sie nicht nach draußen dringen. Er wollte Leonhard nicht die Freude an etwas nehmen, auf das er seit Wochen hin fieberte. Er wollte sich mit ihm freuen.

»Du wolltest über deine Gefühle sprechen, schon vergessen?«, erinnerte ihn Leonhard und streichelte ihm durchs Haar. Kasimir schmiegte sich noch etwas tiefer in seine halboffene Jacke. Er nahm den Duft seines Pullovers wahr, die weiche Wärme seines Körpers. Seine Nähe lockerte den Nervositätsdraht in seiner Brust, die Kälte wich langsam aus seinen Fingern.

»Willst du am Qualifikationsvorspiel teilnehmen?«, flüsterte Leonhard und fuhr mit der Fingerspitze über seine Ohrmuschel. »Du musst nicht, aber ... wenn du dich dazu entscheidest, werde ich dir helfen. Wir machen das gemeinsam. Alles, hörst du?«

Ja. Nein. Es war schwer, sich auf seine Worte zu konzentrieren. Kasimirs Sinne schwanden im Wohlgefühl seiner Nähe. Er konnte sie nicht mit seinem Verstand koppeln, wollte es auch nicht. Stattdessen schob er sanft seine Hände unter Leonhards Jacke. Seine Finger tasteten sich von innen am Reißverschluss entlang und lösten die Blockade, dann zogen sie den Schieber tiefer, bis die Metallzähne auseinander schnappten. Er dachte nicht daran, dass Leonhard womöglich eine Antwort erwartete, wollte nur, dass er diese Jacke auszog. Zusammen mit dem Rest seiner Kleidung.

»Fällt dir die Entscheidung leichter, wenn ich nackt bin?«, feixte Leonhard, ließ sich jedoch von seinem Oberteil befreien und insistierte nicht, als Kasimir seine Gürtelschnalle öffnete. Es fühlte sich gut an, die Kleidung, die ihn wie eine Blüte umgab, Blatt für Blatt von seinem wunderschönen Körper zu zupfen. Eine Magie, die Kasimirs Gedanken ins Vakuum versetzte, während sein Puls sich nach Beschleunigung sehnte. Sie verdrehte seine Emotionen und drängte alle Zweifel aus seiner Seele. Er wollte diese Ängste nicht, brauchte sie nicht. Nicht, solange Leonhard an ihn glaubte.

»Ich liebe dich, Kasi«, hauchte Leonhard ihm ins Ohr, und Kasimir spürte, wie sich eine Gänsehaut über seine Schultern legte. »Ich weiß, dass du das schaffst. Dass wir das schaffen.«

Kasimirs Atem wurde schwerer, als Leonhards Oberschenkel seinen Schoß touchierte. Sein Herz, sein Verstand, alles war ferngesteuert von Leonhards Zuneigung. Er wollte ihm geben, was er sich wünschte. Er wollte der Mensch sein, den er in ihm sah.

»Okay ...«, wisperte er halb seufzend, Leonhards Berührungen machten ihn verrückt. Sein Lächeln brachte die Barriere in seinem Kopf zum Schmelzen. »Okay. Ich mach's.«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt