[66] Bagatelle, pt. 2

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Die Welt um Leo verdunkelte sich. Der Flügel, die Ränge, alles verblasste. Es wurde so still, dass er seine Atmung hörte, seinen Herzschlag. Er war umgeben von Sternen, fühlte keinen Widerstand unter den Füßen.

Was war das? Das Universum?

Plötzlich zischte ein purpurgoldener Lichtstreif an ihm vorbei. Leos Brust pochte stärker. Er hob die Hände vors Gesicht, bewegte seine Finger, ballte die Fäuste. Zumindest steckte er in seinem Körper. Allerdings lag ein seltsamer Schein auf seiner Haut, als leuchtete er von innen.

Die nächste Sternschnuppe zog vorüber, begleitet von einem Schwarm funkelnder Partikel. Leo sah ihnen wie hypnotisiert nach und trat einen Schritt nach vorn, schien tatsächlich im Vakuum zu wandeln. Sanfte Euphorie flimmerte in seinem Herzen. Er ging in die Hocke, drückte sich ab und machte einen Rückwärtssalto. Sofort schoss Adrenalin durch seinen Kopf, während sein Körper schwerelos auf einer Kreisbahn schwebte. Das war unglaublich, wie war er hierhergekommen?

Hello, hello
Anybody out there?

Leo stoppte im Überschlag, als er feine Vibrationen auf der Haut wahrnahm. Sein Universum pulsierte, ausgehend von einem dunklen Punkt am Horizont. Er bemerkte einen ultravioletten Lichtbogen, ruderte mit den Armen und glitt geschmeidig durch das finstere Meer von Materie; näherte sich dem düsteren Glimmen. Als Leo fast danach greifen konnte, nahm es die Form einer menschlichen Silhouette an. Schatten übertünchten ihr Gesicht, ihre Mimik. Leo legte seine Hand an die Wange der Gestalt, erschauderte wohlig. Sie war warm.

»Wer bist du ...?«, flüsterte er. Seine Stimme war lautlos, dennoch leuchtete die schwarzviolette Gestalt kurz auf. Sie hob ihre Hand, legte sie ebenfalls an Leos Wange. Unwillkürlich schmiegte er sich in die Berührung, fühlte sich trotz der Dunkelheit geborgen. Je länger sie verbunden verweilten, desto heller glomm der violette Schein um die Gestalt. Sie bekam Konturen, eine Nase, Lippen. Leo berührte ihre flache Brust, strich über ihre Arme. Sein Herz klopfte immer schneller, während die Silhouette mimische Regungen zeigte. Ihr Mundwinkel zuckte, ihre Lider zitterten. Schließlich öffnete sie die Augen.

Darin lag die silbergraue Unendlichkeit.

Leo hielt den Atem an. Er hob seine Hand, berührte den Unterkiefer seines Gegenübers. Spürte, dass er es war.

Wärme stieg in seine Augen, als der Schatten ihn auf die Stirn küsste. Leo schlang die Arme um ihn, presste sein Gesicht an seine Brust. Ausgerechnet hier trafen sie sich. Umgeben von Finsternis, Stille, Illusionen.

My shadow
Is the only friend that I have ...

Plötzlich spürte Leo, wie sich der Körper unter seinen Fingern auflöste, das Schattengesicht zerfiel in dunkle Partikel. Leo griff nach ihm, doch seine Fingerspitzen waren taub.

Sein Schatten verschwand. Er verschwand vor seinen Augen.


You're my only friend.

Leo atmete schreckhaft ein. Blendendes Licht prasselte plötzlich von allen Seiten auf ihn ein. Er war wieder im Konzertsaal, in der Philharmonie, in Paris. Er saß neben Elise, hielt sein Smartphone in der Hand. Sah dabei zu, wie Martin mit Kasimirs Begleitung live auf YouTube performte.

»Alles in Ordnung?« Elises Stimme zupfte die Reste seines Traums aus Leos Kopf. Er sah ihr blinzelnd ins Gesicht, erkannte den Menschen kaum, der sich in ihren blauen Augen spiegelte. »Du siehst aus, als wärst du einem Geist begegnet.«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt