[12] Poseidon und Hades, pt. 4

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Leo kaute nervös auf seiner Unterlippe herum, während sein Blick durch die Reihen des Konzertsaals glitt. Das Smartphone an seinem Ohr tutete stur vor sich hin, bis die Mailbox sich seiner erbarmte. Zum siebten Mal in der letzten Viertelstunde.

Er seufzte, ließ es sinken und musterte bedrückt die Analoguhr auf dem Display. In gut fünf Minuten sollte das Qualifikationsvorspiel beginnen – doch der Eröffnungspart war wie vom Erdboden verschluckt.

Leo steckte das Handy in die Seitentasche seines apfelgrünen Sakkos und wandte den Blick zur Saaltür. Es betraten von Minute zu Minute weniger Gäste den Raum, keiner davon trug eine schwarze Kapuzenjacke. Die Ungewissheit zerrte an seinen Nerven. Wo war Kasimir? Er hatte ihn an der Garderobe verabschiedet und war fest davon ausgegangen, dass er im Saal Platz nehmen würde. Seitdem war Leo die Reihen dreimal abgelaufen, doch er konnte ihn nirgends finden. Ob er sich absichtlich bis zum Showbeginn verdeckt hielt? Er war zweifellos aufgeregt, die Kälte seiner Finger hatte sogar Leo gefröstelt. Gerade deshalb wollte er ihm vor dem großen Moment beistehen, seine Hand halten, ihm Mut zusprechen. Aber wie, wenn Kasimir seine Anrufe nicht entgegennahm?

Er lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand, sein Blick ging zur Bühne. Wie groß sie war. Wie wunderschön der Steinway unter den Scheinwerfern glänzte. Es lag lange zurück, dass Leo an einem so hochwertigen Klavier gesessen hatte, und die Erinnerung daran entlockte ihm ein Seufzen. Ein wenig beneidete er seinen Freund um die Chance, sich in die Herzen so vieler Menschen zu spielen. Wenn ihm etwas an seinem Leben vor dem Unfall fehlte, dann war es das Kribbeln vor einem wichtigen Auftritt, dieses euphorische Gefühl des Aufgeregtseins. Damals hatte ihm das Herz bis zum Hals geklopft, bevor die Tasten unter seinen Fingerspitzen Funken geschlagen hatten.

Aber diese Zeiten kehrten nie mehr wieder.

»Wow, tolles Jackett!«

Leo sah auf. Eine junge Frau war neben ihn getreten und lächelte ihn so offen an, dass er vor Überraschung nichts zu erwidern wusste. Ihre Augen strahlten wie der wolkenlose Frühlingshimmel, ihre Mimik wirkte so vogelfrei, dass ihm eigentümlich leicht ums Herz wurde.

»Danke ...«, antwortete er zögerlich, ehe er sein Lächeln fand und sie ebenfalls von Kopf bis Fuß begutachtete. »Dein Outfit ist auch klasse. Die verschiedenen Blautöne harmonieren super.«

»Du bist der Erste, der das sagt. Aber ich nehm's dir ab.« Sie lachte und lehnte sich neben ihn, ließ ihren Blick durch die Reihen schweifen. Leo folgte ihrem Beispiel, ohne zur Seite zu weichen. Ihre Gesellschaft fühlte sich seltsam natürlich an, obwohl sie sich noch nicht einmal vorgestellt hatte. »Wahnsinn, wie viele Leute sich das Vorspiel anhören wollen. Trittst du auch auf?«

»Was, ich?«, gab Leo so ungläubig zurück, dass er über seinen schiefen Tonfall lachen musste, und schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin als moralische Stütze hier. Mein Freund spielt die Eröffnung. Zumindest war das der Plan ...« Er verzog die Lippen, sah sich suchend um, natürlich vergeblich. »Irgendwie ist er nicht auffindbar.«

»Wirklich?« Die junge Frau warf einen Blick auf die geblümte Armbanduhr, die sich um ihr linkes Handgelenk wand. Ihre dunklen Locken hüpften, als sie sich etwas tiefer beugte. Erneut überkam Leo ein eigentümliches Gefühl bei diesem Anblick. Die Art, wie sie den Kopf neigte, kam ihm bekannt vor. Nur woher?

Sie murmelte vor sich hin. »Viel Zeit bleibt ihm nicht mehr. Ich habe vorhin lange am Eingang gestanden, vielleicht ist er mir aufgefallen.« Sie legte den Kopf seitlich, sah ihn aus ihren großen, himmelblauen Augen an. »Wie sieht dein Freund denn aus?«

»Oh, er, ähm ...«, stammelte Leo, ihr aufmerksamer Blick machte ihn nervös. »E-er ist ziemlich groß, schlank. Hat schwarze Haare, trägt einen schwarzen Anzug ... eigentlich ist so ziemlich alles an ihm schwarz.«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt