[19] Variatio, pt. 1

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Kasimir schirmte sein Gesicht mit der Hand ab, während er dem von violetten Krokussen gesäumten Pflasterweg folgte. Die Frühlingssonne prasselte unbarmherzig auf ihn herab; sein schwarzes Shirt fühlte sich an wie eine Daunenjacke. Schlimm genug, dass er verspätet aus der Vorlesung entkommen war und zu lange vor der Konditorei angestanden hatte. Womöglich verflüssigte sich der eingepackte Schokoladenkuchen in seiner Ledertasche in diesem Moment. Das war das Letzte, was er nach seinem Ausrutscher vor drei Tagen gebrauchen konnte.

»Ich hab's kapiert, verdammt, halt die Klappe ...«

Kasimir verkrampfte die Finger um den Schulterriemen seiner Tasche, näherte sich Schritt für Schritt Elise Arendts Musikschule. Das schlechte Gewissen nagte an ihm. Seit seiner Bemerkung herrschte eine seltsame Stimmung zwischen Leonhard und ihm; beide schlichen um die Erwähnung des Konflikts herum. Aussprachen zählten nicht zu Kasimirs Stärken, aber er wollte sich bei seinem Freund entschuldigen. Keine Ahnung, ob Leonhard ein Überraschungsbesuch zu seiner Unterrichtsstunde als Wiedergutmachung genügte, aber er musste es versuchen. Das war er dem Menschen, der ihm bislang all seine Marotten verziehen hatte, schuldig.

🎵🎵🎵

Nach wenigen Minuten Fußweg tauchte inmitten der gepflegten Wohnsiedlung ein mit Wildblumen übersätes Grundstück auf. Kasimir blieb stehen und betrachtete sein Handydisplay. Laut App war dies der Standort der Klavierschule. Unmittelbar stieg ihm ein vertrauter Geruch in die Nase. Er lugte über die Glanzmispelhecke, entdeckte einen hochgewachsenen Mann mit dunklen Locken, der an der Hauswand lehnte und rauchte. Er trug ausgewaschene Jeans und einen weißen, mit Farbe beschmierten Sweater; sogar an seinen Wangen hafteten Farbreste. In seinem Mundwinkel klemmte eine Zigarette, ganz natürlich, als wäre sie ein Teil von ihm.

Als der Mann in seine Richtung sah, hielt Kasimir den Atem an. Spürte, wie sich sein Körper versteifte, wie seine Gedanken zerfaserten. Im Fokus dieser tiefseeblauen Augen.

»Hasitzky?«

Oh nein, bitte nicht.

Elias lächelte, winkte zum Gruß in seine Richtung. Kasimir wandte verlegen den Blick ab, dann zog er die Unterlippe zwischen die Zähne. Es war das erste Mal, dass er Elises Bruder nach dem Qualifikationsdebakel gegenüberstand. Er hatte keine Ahnung, wie er mit ihm sprechen sollte, ohne vor Scham im Boden zu versinken.

Nur zögerlich öffnete er das rostige Tor und trat auf die Veranda zu. Vor den Stufen hielt er inne; Unsicherheit zwang seinen Fokus zu Boden.

»Hallo ...«, murmelte er, musterte die nagelneue Rollstuhlrampe, die direkt vor der Haustür endete. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Elias seine Hand zum Mund führte und die Zigarette von seinen Lippen löste.

»Du siehst erholt aus. Geht es dir besser?«

Die sonore Tiefe seiner Stimme sandte ein hohles Flimmern durch Kasimirs Bauch; ließ Erinnerungen aufleuchten. An die Arme, die ihn in seinem schwächsten Moment in Sicherheit gewiegt hatten.

»Alles okay ...« Er überwand sich, Elias ins Gesicht zu sehen. »Danke nochmal. Dass du mir geholfen hast ...«

»Keine Ursache. Ist mein Job. Beziehungsweise war es.«

Seine Betonung machte Kasimir stutzig, doch er traute sich nicht, nachzufragen. Stattdessen verfolgte er stumm, wie Elias sich bückte, um den verbrannten Tabak in einen Aschenbecher zu seinen Füßen zu tippen. Beim Aufrichten nickte er zur angelehnten Tür. »Geh ruhig rein. Dein Verlobter ist mit Elise im Übungszimmer.«

»Mein was ...?«

Elias deutete mit der Zigarette auf Kasimirs linke Hand. Dort, wo die Gravur seines Rings im Sonnenschein funkelte. »Kein Verlobungsring?« Auf Kasimirs Kopfschütteln zog er an der Kippe, entließ weißen Rauch in den Spätmärzhimmel. Kasimir überkam der seltsame Drang, sich zu erklären.

»Mein Geburtstagsgeschenk.« Er trat die niedrige Stufe hinauf, vergrub seine Hand in der Hosentasche. »Wir sind noch nicht so lange zusammen.«

»Verstehe.« Elias störte sich nicht an seiner Befangenheit, drehte abwesend die Zigarette zwischen seinen Fingern. Die einfallende Sonne brachte weiße Farbsprenkel in seinen Strähnen zum Schimmern. Ein eigentümlich schöner Anblick.

»Du, ähm ... malerst?«, fragte Kasimir, kratzte mit der Schuhspitze etwas Schmutz von der Verandafliese.

»Ja. Dauert länger als erwartet. Aber was tut man nicht für seine kleine Schwester?« Elias hielt kurz inne, lächelte. Offenbar genügte Elises Erwähnung, um seine Emotionen hervorzukitzeln. Als er sich Kasimir zuwandte und mit der Zigarette zum Türspalt deutete, stieg dessen Beklommenheit an. »Sie ist angetan von deinem Freund. Meint, sie könne ihm kaum etwas beibringen, weil er auf so hohem Niveau spielt.«

»Ja, er ... er ist professionell aufgetreten. Vor seinem Unfall.«

»Unfall?« Elias strich sich die dunklen Locken aus der Stirn, verschmierte unabsichtlich einen halbtrockenen Farbklecks. »Was ist ihm zugestoßen?«

Ich.

Ein dumpfer Schmerz zog sich durch Kasimirs Brustkorb, so schabend, dass ihm keine Antwort über die Lippen kam.

Elias sah ihm kurz ins Gesicht, dann klemmte er die glühende Zigarette zwischen Mittel- und Zeigefinger, betrachtete sie. »Heikles Thema?«

Mehr als ein Nicken brachte Kasimir nicht über sich. Es hatte lange gedauert, die Schuldgefühle um Leonhards Verletzung loszuwerden. Er wollte die Erinnerung nicht ausgerechnet jetzt aufflammen lassen, da er sich erneut schuldig fühlte.

Elias beließ es dabei; sie standen eine Weile schweigsam nebeneinander. Er zog an seiner Zigarette und ließ seinen Blick über die Frühblüher im Garten wandern, während Kasimir aus dem Augenwinkel beobachtete, wie sich der Tabak aus der Kippe in Rauch umwandelte. Wie einfach es wäre, sich mit einem Zug dieses weißen, wohltuenden Nebels von seinen Gewissensbissen zu befreien.

Und wie leicht man es ihm ansah.

»Auch eine?« Elias griff in seine Hosentasche, zog eine Schachtel hervor und schnippte die Lasche mit einer Daumenbewegung auf. Das bloße Geräusch ließ Kasimir zusammenzucken. Er spürte, wie sein Puls auf das Angebot reagierte.

Nein, lass es. Werd nicht schwach.

»Hab aufgehört«, murmelte er und atmete unmerklich auf, als Elias die Packung wieder in seiner Tasche verschwinden ließ.

»Entschuldige. Ich wollte dich nicht auf die Probe stellen.«

»Schon gut.«

»Nein. Es ist schwer, mit Gewohnheiten zu brechen«, sagte Elias. Kasimir hatte den Eindruck, als schimmere Resignation in seinen dunklen, tiefen Meeraugen, während er mit gesenkten Lidern seine Zigarette musterte. »Beeindruckend, dass du es geschafft hast. Erfordert Selbstbeherrschung.« Er schmunzelte. »Etwas, das ich nicht habe.«

Seine Stimme klang ungewöhnlich flach. Kasimir versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Was war los mit ihm?

»Du bist weit nervenstärker als ich«, erwiderte er und hielt die Luft an, als Elias' Lächeln zynische Züge annahm. Der kurze Seitenblick, den er ihm zuwarf, drang bis in Kasimirs Herz vor. Es pochte heftiger, als es ihm angenehm war.

»Zumindest für's Wändestreichen reicht meine Nervenstärke.« Elias ließ seine Zigarette in den Aschenbecher fallen und nickte über seine Schulter zur angelehnten Tür. »Ich mach drinnen weiter. Kommst du mit?«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt