[21] Moritat

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Der YouTube-Clip lief lautlos über Kasimirs Smartphonedisplay. Zwei Menschen, die der Kamera den Rücken zuwandten. Dreieinhalb Minuten lang dieselbe Perspektive, keine visuellen Effekte, nicht einmal besonders gute Tonqualität. Trotzdem erreichte das Video, das KeysofEli vor acht Tagen auf ihrem Kanal veröffentlicht hatte, fast doppelt so viele Aufrufe wie Kasimirs erfolgreichster Upload – mit demselben Titel.

›All Eyes On Us‹ – Kasimir Hasenick
(KeysofEli feat. Leonhard Valentin)

Kasimir verschränkte die Arme über dem geschlossenen Klavierdeckel und lehnte seine Stirn dagegen. Natürlich schmeichelte ihm die Aufmerksamkeit, die seiner Komposition dank Elises Reichweite zugutekam. Doch er wusste, dass die Lobeshymnen in den Kommentarspalten weniger seiner Musik galten als den Interpreten.

Leonhard und Elise hatten aus seinem Solo ein leidenschaftliches Duett geschaffen. Ihre Stile rieben sich aneinander wie Funken einer Leuchtrakete, die in den Nachthimmel schoss und in einem krachend bunten Noteninferno explodierte. Sie verdienten jeden Daumen über der Liedbeschreibung. Und hatten weit mehr davon als das Original.

Kasimir seufzte, linste auf seine Smartwatch. Seit geschlagenen zwei Stunden saß er im Probenraum seines Instituts und quälte sich mit Minderwertigkeitskomplexen herum, statt ein vortragstaugliches Lied zu Papier zu bringen. Völlig egal, an welches Klavier er sich setzte, seine Motivation verschwand unter einer dicken Schicht Selbstzweifel.

»Ich könnte euch dabei filmen, wie ihr ›All Eyes On Us‹ interpretiert. Ein Gewinn für beide Seiten.«

Elias' Worte tanzten munter durch seinen Kopf. Hätte dieser Kerl nicht an Leonhards Altruismus appelliert, müsste Kasimir nun nicht dabei zusehen, wie Elise die Lorbeeren für sein Werk einheimste. Anscheinend fing selbst ein tiefenruhiger Mann wie Elias Feuer, wenn seine Schwester die Tasten berührte.

Wer war er eigentlich?

Kasimir zögerte, ehe er Elias' Namen in die Suchleiste seines Handybrowsers eintippte. Es war nicht seine Art, fremden Menschen hinterherzuspionieren, doch irgendetwas an Elias Arendt reizte ihn.

Bereits nach wenigen Klicks stieß er auf sein Instagram-Profil. @sani_lias hatte über dreitausend Follower und pfiff auf digitale Privatsphäre; dutzende Fotos und Videos waren frei einsehbar. Es überraschte Kasimir, dass dieser besonnen wirkende Mensch offenbar ein Faible dafür hatte, seinen Alltag mit Fremden zu teilen. Zugegeben, die wenigsten Aufnahmen zeigten ihn selbst. Meist war es Elise, die am Klavier sitzend in die Kamera lächelte, Aufnahmen seiner Zeichnungen oder Postings zur Neueröffnung von ›Paradiesnoten‹. Erst nach längerem Scrollen erschienen persönlichere Bilder. Elias in Sanitäteruniform bei einem Erste-Hilfe-Lehrgang oder mit erhobenem Daumen am Steuer eines Krankenwagens. Seltsam. Wenn Kasimir sich recht erinnerte, hatte er von seinem Job in der Vergangenheitsform gesprochen. Auf den Fotos sah er zufrieden aus, engagiert. Warum hatte er seine Karriere aufgegeben?

Während er halbherzig weiterscrollte, fiel Kasimir ein Post ins Auge, der Elias Arm in Arm mit bunt gekleideten Feierwütigen zeigte. Er deutete lächelnd auf den blau-violetten Schriftzug auf seinem schwarzen Shirt. Kasimir zoomte etwas tiefer ins Bild – und konnte nicht recht glauben, was er dort las.

💙Why not both?💜

Ein leises Klopfen ließ ihn zusammenschrecken. Er wandte den Blick zunächst zur Tür, dann zu seiner Armbanduhr. Offenbar war seine spontane Recherchesession länger ausgefallen als geplant.

»M-Moment ...«, stammelte er und schaffte es gerade noch, sein Smartphone in die Hosentasche zu stecken, ehe ein leises Lachen durch die Tür drang. Das klang beinahe wie ...

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt