[30] Fuga, pt. 2

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💫 600 Sterne Sonderkapitel 💫

Drama in 3, 2, 1 ...














Der Wind pfiff durch die Gebäudeflure, als Leo die Tram an seiner Heimathaltestelle verließ. Er zog sich den roten Schal übers Kinn bis zu den Ohren und hielt ihn fest, damit er nicht vom Maisturm davon geblasen wurde. Am liebsten würde er sich für den Rest des Abends an den Heizkörper klammern. Aber er hatte Angst, sich zu beeilen.

Davor, was ihn hinter der Wohnungstür erwartete.

Während er sich seiner Adresse näherte, sah Leo wiederholt auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach sechs, die Teilnehmerliste war seit zwei Stunden online. In der vergangenen Woche hatten ihn immerzu Schauder überfallen beim Gedanken, dass er seine Entscheidung bald vor Kasimir rechtfertigen musste. Obwohl ein Restfunken Hoffnung in seinem Herzen glomm, dass er verständnisvoll reagierte, spürte Leo, dass dieses Gespräch vorübergehend das Ende ihrer Geschäftsbeziehung markierte. Er konnte sich nicht mehr uneingeschränkt auf Kasimirs Vorbereitung konzentrieren.

Jetzt, da er selbst Kandidat der Pianovision war.

🎵🎵🎵

Auf der drittletzten Treppenstufe vor seiner Wohnung blieb Leo stehen. Das Klirren der Weinflasche, die er im Rucksack bei sich trug, verstummte. Er hatte sie im Gutglauben gekauft, dass Kasimir seine Beweggründe verstand, seine Initiative womöglich sogar unterstützte.

Doch dieses Szenario löste sich beim Anblick der halboffenen Wohnungstür in Luft auf.

Leo schluckte, trat die letzten Stufen hinauf wie zum Schafott. Im Wohnungsflur brannte Licht, undeutliche Geräusche drangen durch den Türspalt. Neben dem Fußabtreter entdeckte er eine vollgepackte schwarze Sporttasche.

Ganz ruhig. Er ist hier. Du kannst ihm alles erklären

Leo atmete tief durch, dann schob er die Tür nach innen und trat ein. Sofort bemerkte er, dass alle Räume erleuchtet waren. 

»Kasi ...?«, fragte er vorsichtig, woraufhin die Geräusche verstummten. Leo zog die Unterlippe zwischen die Zähne und wandte sich dem Schlafzimmer zu, hörte ein Rumpeln, ein Schleifen - und schließlich Schritte, die direkt vor der Tür stoppten. Als die Klinke herunterschnellte, trat Leo einen Schritt zurück - und erstarrte, als sein Freund mit dem Riemen einer weiteren halbvollen Tasche über der Schulter vor ihm stand. Derselbe Mensch, den er am Morgen zum Abschied auf den Mund geküsst hatte, der ihm mit einer unbeschreiblichen Zuneigung in den Augen begegnet war.

Nichts davon war geblieben.

»Hier bist du ...«, sagte Leo mit einem zurückhaltenden Schmunzeln. »Das ist gut, ich ... wollte mit dir reden.«

Kasimir starrte ihn an. So durchdringend, dass Leo das Atmen einstellte. Er schwieg, in seinem Gesicht bewegte sich nichts. Doch was hinter dieser Fassade brodelte, spürte Leo bis in die Knochen.

»Ich, ähm ... ich weiß, du bist bestimmt verwirrt und sauer, aber ...«, versuchte es Leo noch einmal. »Ich kann es dir erklären. Okay ...?«

Noch immer tat sich nichts in Kasimirs Mimik. Stattdessen schob er sich kommentarlos an Leo vorbei ins Wohnzimmer, ließ seine Tasche auf den Boden fallen und begann, achtlos diverse Utensilien hineinzuwerfen. Kopfhörer, sein Ladekabel. Noten.

»Was machst du da ...?«

»Wonach sieht es aus?«, erwiderte Kasimir, ohne sich Leo zuzuwenden. Seine Stimme klang gereizt. »Ich räume das Klavier. Du wirst üben müssen für deinen großen Auftritt.«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt