[23] Elysium, pt. 2

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Kasimir tippte mit dem Fuß auf das Wartezimmerparkett. Die warmen Wandfarben und gerahmten Stillleben sollten vermutlich die Anspannung der Patienten lindern, doch auf ihn wirkte der Raum einengend. Zudem gaben ihm die Lähmungserscheinungen seiner Sitznachbarn das Gefühl, vollkommen fehl am Platz zu sein. Aber er wusste sich nicht anders zu helfen.

Als sich die Tür zum Sprechzimmer der neurologischen Gemeinschaftspraxis öffnete, blickten alle Wartenden auf. Wahrscheinlich war Kasimir der Einzige, dem beim Anblick des freundlich lächelnden Arztes das Herz in die Hose rutschte.

»Herr Hasenick, bitte«, sagte er und wartete in der Tür. Kasimir atmete tief durch und erhob sich, trottete gesenkten Blickes durchs Wartezimmer und betrat den Raum, ohne dem Mann, der ihm galant die Tür aufhielt, ins Gesicht zu schauen. Er schaffte es nicht.

Nicht, nachdem er ihm vor anderthalb Jahren das Herz gebrochen hatte.

»Deine Nachricht hat mich überrascht«, sagte Erik, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, und bot Kasimir den Stuhl gegenüber seines Schreibtischs an. »Du hättest anrufen können.«

Kasimir starrte sich an der Tischkante fest, während Erik sich niederließ. Sein Ex-Freund trug einen nagelneuen Kittel mit dem Logo der Praxis über seinem braunen Rollkragenpullover. Sein dunkles, lockiges Haar war etwas länger, er ließ sich inzwischen einen Drei-Tage-Bart stehen. Alles in allem wirkte er gereift seit ihrem letzten Aufeinandertreffen. Offenbar ganz im Gegensatz zu Kasimir.

»Du hast dich kein bisschen verändert.« Erik musterte schmunzelnd Kasimirs schwarzes Outfit. »Wobei ich gehört habe, dass du endgültig mit dem Rauchen aufgehört hast. Das freut mich.«

»Von Leo?« Kasimir biss sich auf die Unterlippe, als Erik nickte. Er hatte keine Ahnung, wie Leonhard Erik überzeugt hatte, ihn trotz ihrer verkorksten Beziehung weiterzubehandeln. Fakt war, dass sein Freund im vergangenen Jahr regelmäßigeren Kontakt mit seinem Ex gepflegt hatte als er selbst.

»Er war lange nicht mehr hier. Geht's ihm gut?«, wollte Erik wissen. Kasimir zuckte mit den Schultern.

»Er hat viel um die Ohren.«

»Ihr beide, will ich meinen. Frida hat erzählt, dass du dich für die Pianovision qualifiziert hast. Glückwunsch, das ist großartig.«

»Danke ...« Kasimir seufzte, tippte rastlos mit dem Zeigefinger auf sein Knie. »Eigentlich ist das der Grund, weshalb ich hier bin ... ich brauche ärztlichen Rat.«

Erik zog die Augenbrauen hoch. »Hast du ein neurologisches Problem?«, fragte er und schürzte die Lippen, als Kasimir den Kopf schwenkte. »Du weißt, dass ich mich spezialisiert habe. Dort draußen warten Menschen, die konkrete Hilfe brauchen, Kasimir.«

»Ich weiß ...« Kasimir zögerte. Er hatte erwartet, dass ihm dieses Gespräch schwerfallen würde. Aber er musste es versuchen. »Ich glaube, du bist der Einzige, der es versteht ... vielleicht.«

Er sah auf, bemerkte Skepsis in Eriks Augen. Trotzdem wusste er, dass er ihn nicht einfach abweisen würde. Nicht der Mann, dem er alles von sich gezeigt hatte.

»Na schön«, seufzte Erik und strich den Anamnesebogen auf seinem Schreibtisch glatt, zog einen Kugelschreiber aus seiner Brusttasche. »Worum geht es?«

»Ich, ähm ... habe Probleme mit meiner Atmung. Es gibt Momente, da bekomme ich keine Luft. Mir wird kalt, übel, ich fange an zu zittern und ...«

... bin zu nichts mehr in der Lage.

Kasimir presste die Lippen aufeinander. Allein seine Symptome laut auszusprechen, sandte ein Beben in seine Hände. Er wusste, dass Erik seine Reaktion bemerkte, versuchte nicht, sie vor ihm zu kontrollieren. Wenn er ihm nicht helfen konnte, konnte es niemand.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt