[78] Etüde, pt. 2

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Leo wippte auf den Ballen. Euphorie strömte durch seinen Körper, während der Jubel durch die Wände drang. Was auch immer Dawid auf der Bühne veranstaltete, sein Auftritt schlug ein wie eine Bombe. Nur noch eine Kandidatin, dann mussten Leo und Kasimir es ihm gleichtun. Sich als Duo beweisen, ohne ein einziges Mal zusammen geübt zu haben.

Der bloße Gedanke zuckte wohlig durch Leos Brust. Es war so aufregend, so unvorhersehbar. Er freute sich auf den Nervenkitzel.

Die belgische Kandidatin neben ihm atmete tief durch, machte sich bereit für ihre Darbietung. Bevor sie zur Tür trat, wünschte Leo ihr Glück; in der vergangenen Stunde hatten sie gemeinsam abseits der Bühne gezittert. Während sie den Backstagebereich verließ und von Applaus empfangen wurde, vibrierte Leos Smartphone in seiner Hosentasche. Er zog es hervor, sah eine Nachricht von seiner Schwester und musste schmunzeln, als er sie öffnete. Mira wusste, dass er vor Auftritten keine Wörter entziffern konnte, aber ihre Botschaft war eindeutig.

›👍🤗🍀🥳🤩🎶🫶🕺!!!‹

Er aktivierte soeben das Tastenfeld, als sich die Tür zum Konzertsaal ein weiteres Mal öffnete - so geräuschvoll, dass Leo vor Schreck fast das Handy aus der Hand rutschte. Eine Kandidatin schrie auf, als jemand in den Raum stolperte und zu Boden ging. Und als Leo ihn erkannte, ließ er das Smartphone wirklich fallen.

»Kasi!«, rief er und lief zu seinem Freund, der keuchend am Boden kniete. Er blickte nur kurz auf, als Leo neben ihm in die Hocke ging, doch es genügte, um ihm eine Heidenangst einzujagen. Kasimirs Gesicht war knallrot.

»Was ist los?« Leo griff nach seinen Schultern, das Herz klopfte ihm bis zum Hals. »Kriegst du keine Luft?«

Kasimir presste die Lider zusammen und schüttelte den Kopf, rang gequält nach Atem. Leo sah sich um, wusste nicht, was er tun sollte.

»I-ich hol Hilfe, ja?«, brachte er stockend hervor. »Ich hol' jemanden, o-okay? Warte kurz ...«

Er wollte aufstehen, spürte jedoch einen straffen Zug am Ärmel und kam nicht auf die Beine. Kasimir riss ihn förmlich am Jackett an sich, schlang die Arme um Leos Oberkörper und drückte die Stirn in seine Halsbeuge. Sein Körper bebte, sein Keuchen klang schmerzhaft, doch er klammerte sich mit aller Kraft an ihn.

Leos Herz hämmerte. Er legte ebenfalls die Arme um seinen Freund, spürte Kasimirs rasenden Puls an seiner Brust. In seinem Kopf drehte sich alles, ein Karussell aus Hilflosigkeit. Er wollte etwas tun, doch Kasimir hielt ihn so fest, dass er sich nicht bewegen konnte.

»Bleib ... bleib hier ...«

Leo neigte das Gesicht gegen Kasimirs Wange. Die Schultern seines Freundes hoben sich ruckhaft, seine Atemzüge waren unfassbar schwer. Aber es gelang ihm anscheinend, wieder Luft zu holen.

»Ich gehe nicht weg«, wisperte Leo, legte die Hand an Kasimirs Hinterkopf. Das Herz seines Freundes pochte schnell, doch sein Rhythmus normalisierte sich mit jedem Atemzug. Irgendwann drückte er sich vorsichtig an Leos Schultern ab, gerade so weit, dass sie einander ins Gesicht sehen konnten. Kasimir blinzelte, atmete durch den Mund. Er atmete.

»Was war das ...?«, wisperte Leo, strich ihm zaghaft mit den Fingern über die Wange. Kasimir schüttelte den Kopf, konzentrierte sich weiterhin aufs Atmen. Dann presste er stockend Satzfetzen hervor.

»Der Grund ... weshalb ich ... nicht teilnehmen wollte ... daran ...«

»Was ...?«

Leo strich mit den Fingern durch Kasimirs Haar. Das Zittern ließ langsam nach, doch seine Augen waren gerötet, seine Haut noch immer stark durchblutet. Er sah aus, als hätte er mit dem Ersticken gerungen.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt