[39] Couplet

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Kasimir betrachtete sich im Badspiegel seines Hotelzimmers. Sein schwarzes Hemd lag faltenfrei an seinem Oberkörper an, der Kragen stand symmetrisch über dem Ansatz des Fassons. Das frisch gewaschene Haar glänzte im Schein der Spiegelleuchten, sein Gesicht war glatt rasiert. Er sah stattlicher aus als bei Cecilies Hochzeit, respektabler als am Tag seiner Bachelorprüfung.

Nur das Selbstbewusstsein fehlte.

Er stützte die Hände auf die Waschbeckenarmatur, schloss die Augen, atmete tief durch. Er konnte das. Die Harmonica, sein Debüt als Solist - er hatte oft genug im Mittelpunkt gestanden. Allerdings musste er sich auf diesem Galadinner erstmals allein der Öffentlichkeit präsentieren. Ohne Rückhalt, ohne Absicherung.

Ohne Leonhard.

Der bloße Gedanke sandte ein Beben in seine Finger. Er krampfte die Hände zu Fäusten, zählte bis zehn und sah wieder in den Spiegel. Seine Lidwinkel zuckten, er schwitzte am Haaransatz, seine Lippen waren trocken und blass. Er brauchte sich nichts vormachen. Allein am Klavier sitzen, für sich ein Stück interpretieren - das machte ihn aus. An den Tasten musste er sich weder für sein Erscheinungsbild noch seine Aussagen rechtfertigen, konnte mit dem punkten, was er beherrschte. Doch das, was ihn in weniger als einer Stunde erwartete, hatte nichts mit einem passionierten Musikvortrag zu tun.

Es war der blanke Horror.

Kasimir nahm seine Brille ab, drehte den Hahn auf und ließ kaltes Wasser über sein Gesicht laufen. Den gesamten Nachmittag hatte er versucht, sich abzulenken; hatte mit seiner Schwester im Wochenbett telefoniert, war rastlos vor Leonhards Zimmer auf und ab gelaufen. Wahrscheinlich schlief sein Freund längst. Am liebsten wäre Kasimir bei ihm, würde sich neben ihn legen, ihm Halt geben. Stattdessen frönte er vor dem Spiegel seinem Selbstmitleid. So nah und so weit entfernt von ihm.

Das Piepen des Türriegels ließ Kasimir aufhorchen. Als er Schritte im Zimmer wahrnahm, hielt er den Atem an; kurz darauf drang Elias' Stimme dumpf durch die geschlossene Badtür.

»Er schläft. Ich habe dem Hotelpersonal gesagt, sie sollen ihm Abendessen aufs Zimmer bringen.«

»Okay ... danke«, erwiderte Kasimir leise, kramte in seiner Waschtasche herum. Beim unscheinbaren Klopfen an der Tür hielt er inne.

»Kann ich reinkommen?«

»Ja ... Moment ...«

Kasimir sah in den Spiegel, atmete tief ein. Dann öffnete er die Tür und trat vor das Waschbecken, um Elias nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Nicht, nachdem er ihn vor Leonhard und seiner Schwester bloßgestellt hatte.

Elias betrat den Raum wortlos. Aus dem Augenwinkel sah Kasimir, dass auch er sich bereits für den Abend fein gemacht hatte. Eine blaugraue Anzughose über schneeweißem Hemd, dessen raffinierte Perlmuttknöpfe in verschiedenen Farben schillerten. Er hatte sie noch nicht geschlossen, der Stoff umrahmte seine nackte Brust. Seine ausgeprägte Bauchmuskulatur.

Kasimir versuchte, sich auf sein Spiegelbild zu konzentrieren, während Elias seinen Oberkörper mit einem hochwertigen Deodorant benebelte.

»Wie geht es dir?«, fragte er mit zugewandtem Rücken. Die Monotonie seiner Stimme machte Kasimir beklommen. Seit ihrem Konflikt wirkte er distanzierter.

»Gut ... wieso?«

»Du warst vorhin angespannt.« Elias drehte sich um, trat neben ihn vor den Spiegel, begutachtete sein Gesicht. »Man sieht nicht jeden Tag dabei zu, wie sein Partner zusammenbricht. Aber es ist halb so schlimm. Morgen früh ist er ganz der Alte.«

»Okay ...« Kasimir wurde flau im Magen, er widmete sich wieder der Durchwühlung seiner Hygieneartikel. Wenngleich ihm die Situation unangenehm war, er hatte Vertrauen in Elias' Einschätzung. Nach Leonhards Ohnmachtsanfall war er sofort an dessen Seite gewesen, hatte seine Vitalfunktionen überprüft und ihn gemeinsam mit Kasimir aufs Zimmer getragen. In den letzten Stunden hatte er mehrfach nach ihm gesehen und alle Formalitäten um Leonhards Fernbleiben von der Gala geregelt. Er wusste, was er tat, war souverän im Handling dieser Ausnahmesituation. Viel souveräner als Kasimir. »Es, ähm ... tut mir leid, dass ich dich vorhin angegangen bin. Ich war nervös, ich ... wusste nicht, was mit ihm ist.«

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt