[73] Cantabile, pt. 2

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Die Strahlen der Morgensonne schmiegten sich an die Dachziegel des Cafés in der Rue de la Marne. Kasimir wartete unter der ausgeblichenen Markise; blickte alle paar Sekunden auf seine Smartwatch. Es war drei Minuten vor acht, er war überpünktlich. Die Tür zum Lokal öffnete sich regelmäßig, Pariser gingen mit dampfenden Kaffeebechern und Gebäcktüten ein und aus. Mit jedem Quietschen der Scharniere flammte seine Nervosität auf, zusammen mit dem Wunsch, zurück ins Hotel zu fahren und Leonhard bis zur Show nicht von der Seite zu weichen. Aber er durfte nicht wenige Meter vor dem Ziel die Bremse ziehen.

»Kasimir!«

Ein Schauer durchfuhr ihn, er wandte den Kopf zum Bürgersteig. Eine junge Frau im blauen Anorak näherte sich winkend von der Kreuzung, ihr lockiges Haar wurde vom Windzug zwischen den Gebäudefluren zur Seite geweht. Sie schien erfreut, ihn zu sehen. Anders als die Person dicht hinter ihr.

Kasimir hob zaghaft die Hand und steckte sie anschließend in seine Hosentasche, sein Herz klopfte unheimlich schnell. Er hatte das Szenario mehrfach in Gedanken durchgespielt, während Leonhard im Morgengrauen friedlich an seiner Seite geschlummert hatte. Jetzt, da es Realität wurde, fühlte er sich alles andere als vorbereitet.

»Tut mir leid, die Bahnstation war weiter weg als erwartet.« Elise blieb vor ihm stehen, stemmte die linke Hand in die Hüfte. »Wartest du schon lange?«

»Bin eben angekommen«, murmelte er, musterte zunächst sie, dann ihren Bruder. Elias studierte die Angebotstafel neben einem blühenden Rosmarinstrauch. »Danke, dass ihr es einrichten konntet.«

»Kein Problem. Gut, dass du da bist. Leo hat sich bestimmt gefreut.«

Sie lächelte so herzlich, dass das schlechte Gewissen auf Kasimirs Kehle drückte. Da war so vieles, was er ihr sagen musste, was er richtigstellen wollte. Wo sollte er anfangen?

»Wie geht es ihm?«

Elias' Stimme strich wie die Spitze eines Eiszapfens über Kasimirs Unterarme. Er musste sich zwingen, ihm ins Gesicht zu sehen. Auch Elias schien der Blickkontakt nicht leichtzufallen.

»Den Umständen entsprechend«, antwortete Kasimir, ballte die Hand in seiner Hosentasche. Elias nickte, dann wich er seinem Fokus aus.

»Es tut mir leid, was passiert ist. Ich wollte ihn nicht verletzen.«

»Sag das ihm. Nicht mir.«

Endlich sah Elias auf. In seinen dunkelblauen Augen schimmerte etwas, das Kasimir noch nie bei ihm gesehen hatte. Bedauern.

»Wir sehen uns bei der Generalprobe«, fügte Elise an, wandte sich ebenfalls an ihren Bruder. »Dann kannst du dich bei ihm und Dawid entschuldigen.«

Elias' linkes Lid zuckte, ihr Kommentar schien ihm einen Stich zu versetzen. Elise strich ihm sanft über den Ärmel seines Mantels, als wollte sie ihn gleichermaßen ermahnen und trösten. Während sein Kinn tiefer sank, nickte sie zur Eingangstür. »Wollen wir reingehen? Ist ziemlich kalt hier draußen ...«

»Warte, ich ...« Elias löste sich von ihrer Hand und trat einen Schritt auf Kasimir zu. In seinen Augen lagen Scham und Reue, wenn auch verborgen in der Tiefe seiner Iris. »Ich möchte dich um Verzeihung bitten. Ich habe dein Vertrauen ausgenutzt. Es tut mir leid, dass du die Konsequenzen für mein Fehlverhalten tragen musst.«

Kasimirs Herz klopfte mit jedem Wort stärker. Er spürte, dass Elias seine Worte ehrlich meinte. Aber sie waren nicht das, was er wollte. Statt zu antworten, zog er die Hand aus seiner Hosentasche und hielt sie geöffnet vor sich. Elias verstand sofort und griff in seine Jackentasche, holte ein quadratisches, schwarzes Kästchen hervor und legte es in Kasimirs Handfläche. Kasimir hielt den Blickkontakt noch einen Moment aufrecht, dann öffnete er den Deckel des Kästchens. Sein Atem stockte, als ihm sein Ring entgegenschien; die Sonnenstrahlen brachten die Notengravur zum Funkeln. Er steckte in einem weißen Samtkissen, das ihn vor Verunreinigungen und Kratzern geschützt hatte.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt