[74] Ballade, pt. 1

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Leo blickte zum Hotelfenster hinaus auf die Philharmonie. Vor der Zufahrt zum Parkhaus staute sich der Verkehr, elegant gekleidete Menschen liefen zum hell erleuchteten Konzerthaus. Noch knapp zwei Stunden, dann würde alles um die Philharmonie ruhig sein. Dann begann ihr Herz zu glühen.

Er hob seine linke Hand vors Gesicht. Seine Finger waren gekrümmt und steif, doch er mochte ihren Anblick. Sie symbolisierten den Mut, den er aufgebracht hatte, um seinen liebsten Menschen zu beschützen. Und nun ermöglichten sie ihm den größten Auftritt seines Lebens.

Er ließ die Hand sinken, atmete tief durch. Sein Herz pochte seit Stunden auf wechselnder Frequenz. Er hatte keine Ahnung, wie oft er in den letzten dreißig Minuten aufs Klo gerannt war, konnte sich nicht einmal mit Social Media ablenken, weil die Buchstaben auf dem Display verrückt spielten. Es wäre leichter, wenn er nicht allein wäre. Wenn jemand bei ihm wäre, der ihm gut zusprach.

Er sah hinüber zu dem Strauß Wildrosen, der seit gestern Abend in einem Wasserglas auf seinem Nachttisch stand, seufzte leise und zog sein Handy hervor. Sein Daumen kreiste über Kasimirs Kontaktbild, wählte aber schließlich ein anderes. Das ewige Tuten machte ihn mürbe, bis endlich ein Rauschen durch den Lautsprecher drang.

»Si?«

»Hey, Franna, ich bin's ...«

»Warte kurz.«

Die Verbindung knisterte, im Hintergrund hörte Leo italienische Satzfetzen. Dann nahm er ein Klacken wahr, es klang wie das rhythmische Hallen von Francescas Absätzen. »Was gibt's?«

»Oh, nichts Besonderes.«

»Brauchst du Hilfe beim Anziehen?«

»Nein ...?« Leo sah an sich herunter. Sein hellblaues Seidenjackett schimmerte im Licht der Deckenlampe, das gelbe Hemd hatte er provisorisch in die Hose gestopft. Neben Elises elegantem Abendkleid fiel seine Aufmachung ohnehin nicht ins Gewicht. »Wollte bloß deine Stimme hören.«

»Im Ernst? Schwing deinen Hintern in die Philharmonie, wenn du Gesellschaft brauchst. Hier sind mehr als genug Leute mit Stimmen.«

»Haha, ja ... schätze, ich bin ein bisschen aufgeregt. Vielleicht ...«

... habe ich Angst.

Leo schluckte, legte die Hand auf seine Brust. Das Pochen unter seinen Fingerspitzen machte ihn noch nervöser.

Francesca schwieg einen Moment, die geschäftigen Geräusche im Hintergrund blieben konstant.

»Ich kann nicht weg, Leo. Unser Chefdirigent ist hier, um Isabella zu unterstützen. Er erwartet, dass ich ihm Gesellschaft leiste.«

»Ja, das ... ich versteh das. Ich komm klar, i-ich dachte nur ...«

Er verstummte, als seine Stimme zu flackern begann. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann sein Körper jemals so heftig auf einen bevorstehenden Auftritt reagiert hatte.

Erneut zögerte Francesca. Leo spürte, dass sie mit sich rang. »Wo ist Fifone?«

Leos Herz machte einen Stolperschritt, er sah sich unwillkürlich zur Zimmertür um.

»Ich weiß nicht. Hab ihn seit heut Morgen nicht gesehen.«

»Bei der Generalprobe war er auch nicht. Wieso kommt er her, um dich im entscheidenden Moment im Stich zu lassen?«

»Tut er nicht. Er hat bestimmt einen Grund.«

Francesca zischte. Leo spürte ihren Argwohn wie einen Dorn im Herzen, doch sie hatte einen Punkt. Kasimir war seit dem Morgen verschwunden. Er hatte Leo weder gesagt, wohin er ging, noch wann er wiederkam.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt