[81] Fine

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Leo traute seinen Augen kaum, als er die Wohnung betrat. Im Flur stapelten sich Umzugskartons, Spuren von Straßenschuhen hafteten am Laminatboden. Thomas und Kasimir hatten ganze Arbeit geleistet.

Er stellte seinen Rucksack neben eine der Kisten und bahnte sich durch das Chaos einen Weg ins Wohnzimmer. Die Abendsonne fiel durch die hohen Fenster, bemalte die Wände in goldenen Tönen. Obwohl der Raum nahezu leer war, fühlte Leo sich geborgen. Schon bald würden Möbel und Bilder sein neues Zuhause in einen Wohlfühlort verwandeln. Die wichtigste Bedingung war bereits erfüllt.

Er wohnte hier zusammen mit seinem Lieblingsmenschen.

Leo schmunzelte. Es würde anstrengend werden, ihre neuen vier Wände neben der Abendschule und Kasimirs Lehrveranstaltungen einzurichten, aber er freute sich darauf. Besonders, weil diese Zimmer nicht nur Platz zum Leben boten, sondern auch das Fundament für ihre gemeinsame Karriere schufen. Noch vor Monaten hätte er nicht geglaubt, einmal an diesem Punkt zu stehen, doch nun sah er es klar vor sich.

Verkörpert durch ein Objekt, das mit einem Tuch behangen vor ihm an der Wand ruhte.

Leo trat davor, zog achtsam den Stoff herunter. Seine Finger glitten über die kunstvoll geschnitzten Holzstrukturen, ihr süßer Duft umspielte seine Nase. Er griff nach dem Hocker, ließ sich darauf nieder und hob das Verdeck des Klaviers an.

Seines Klaviers.

Als seine Finger die Tasten berührten, musste er schlucken. Es waren fast zwei Jahre vergangen, seit er zum letzten Mal an diesem Instrument gesessen hatte. Kasimir hatte ihm zu Weihnachten mit einem einhändigen Stück Tränen in die Augen gespielt. Ob Leos Sehnsucht nach den Tasten in diesem Moment wiedererwacht war?

Er schloss die Augen. Es fühlte sich an, als säße er auf einer Wolke und berührte mit seinen Fingerspitzen die Sterne. Mit jedem Ton funkelten sie auf, schillerten durch seine Fantasie. Sein Herz genoss ihre verträumte Melodie. Da war so viel, was er in sich trug, so viel, was er geben wollte. Endlich konnte er es wieder in Noten ausdrücken. Zusammen mit dem Mann, dem er dieses Glück verdankte.

Ein Poltern ließ Leo zusammenzucken, die Musik unter seinen Fingern verstummte. Er drehte sich zur Wohnzimmertür, nahm rhythmische Schritte und Gemaule wahr. Sein Herz machte einen Sprung, er stand auf und lief in den Flur. Gerade rechtzeitig, um den fleißigen Möbelpackern die Tür zu öffnen.

»Nicht so schnell. Wenn es runterfällt, muss deine Tochter auf 'nem kaputten Klavier üben.«

»Als ob sie's merken würde ... schau an, Zimmerservice.« Thomas grinste breit, als Leo ihnen die Tür aufhielt. »Seit wann bist du da?«

»Eben rein.« Er trat einen Schritt zurück, um seinen Umzugshelfer hinein zu lassen. Kasimir folgte auf der anderen Seite des Transportguts und hielt im Türrahmen inne, um ihm einen Begrüßungskuss zu geben, dann manövrierten er und Thomas Kasimirs E-Piano kollisionsfrei in den Flur. Leo folgte ihnen. »Wie war die Fahrt?«

»Stressig. Berlin mit 'nem Transporter ist kein Zuckerschlecken. Und dann noch dieser nutzlose Beifahrer.«

Thomas stupste Kasimir neckisch in die Seite. Sein Augenrollen zauberte Leo ein Schmunzeln auf Lippen.

»Ist noch viel zu tragen?«

»Das war das Letzte.«

Zufrieden stemmte Thomas die Hände in die Hüften, Kasimir hingegen stützte sich erschöpft an der Wand ab. Wärme flammte über Leos Wangen, als sein Freund schmunzelte. Selbst im kaputten Zustand war dieser Typ unwiderstehlich.

All Eyes On Us [3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt